Artikel der WAZ vom 10. Mai 2012: „Sex-Täter wohnt nach Missbrauch weiter neben seinem Opfer (5)“
Als Überlebende sexualisierter Gewalt in der Kindheit machte ich mich am 10. Mai 2012 auf den Weg nach Berlin, um am Tag darauf am 2. Jour Fixe des Unabhängigen Beauftragte für sexuellen Kindesmissbrauch, Johannes Wilhelm Rörig, teilzunehmen. Im Zug schlug ich die WAZ auf und mir sprang sofort der oben genannte Artikel entgegen.
Wieder ein schreckliches Drama! Ich fühle sehr mit dem kleinen Jungen und seiner Familie, mit den Nachbarn, die nun in Sorge und Angst um ihre Kinder leben. Dem Kind und seinen Eltern wünsche ich eine hilfreiche Aufarbeitung seines Traumas.
Was mir ganz besonders auffällt, ist die Tatsache, dass der Missbrauch als „am unteren Rand des Möglichen“ angesehen wird. Ich weiß, dass es eine juristische „Qualitätsskala“ verschiedener Missbrauchsgeschehen gibt, die jedoch nur das Strafmaß beeinflusst, nicht aber die Leiden eines missbrauchten Kindes beachtet.
Ein fünfjähriger Junge weiß, dass niemand seine Genitalien zu küssen hat. Er weiß auch schon, dass das Küssen von kindlichen Genitalien „falsch“ ist und er kann schnell auf den Gedanken kommen, bei diesem „Falschen“ mitgemacht, einen Anteil daran geleistet zu haben. Schuldgefühle, deren Folgen lebenslänglich sein können, machen sich auch bei einem Kind in diesem Alter breit! Hierzu einige Zitate:
“Seelenmord” wurde von der Autorin Ursula Wirtz als Begriff geprägt. Wirtz nennt sexualisierte Kindesmisshandlung einen “Angriff auf die menschliche Würde, auf die seelische und körperliche Integrität und damit die Identität des Kindes”. Das wahre Selbst des Kindes, sein Kern, seine Seele, das, mit dem es bereits auf diese Welt kam, wird durch die Übergriffe “ermordet”, so Wirtz. Das “Seelenmordende” beschreibt die US-amerikanische Psychiaterin Judith L. Herman (Die Narben der Gewalt, Junfermann 2003) so: “Bei Erwachsenen greift wiederholtes Trauma eine bereits geformte Persönlichkeit an, bei Kindern dagegen prägt und deformiert wiederholtes Trauma die Persönlichkeit.”
Die Psychologin Monika Gerstendörfer (Der verlorene Kampf um die Wörter, 2007): “Es gibt tatsächlich keine zuverlässigere Methode, einem Menschen die Existenz zu nehmen, als an ihr oder ihm sexualisierte Gewalt auszuüben. Diese Gewaltform ist das wirksamste Vehikel, um einen Menschen zu zerstören.”
Ich erkenne an, dass der Richter der Forderung der Staatsanwaltschaft nicht gefolgt ist und das Strafmaß heraufgesetzt hat. Dennoch hätte ich mir eine Freiheistsstrafe gewünscht, denn die Neigung des Täters ist offensichtlich, Kinderpornos lädt man nicht „aus Versehen“ auf seinen PC.
„Unbeantwortet blieb (zumindest öffentlich), ob seine pädophile Neigung krankhaft bedingt sei.“ Hier scheint der WAZ-Autor Arne Poll wenig Ahnung zu haben, wobei ich mir nicht sicher bin, ob diese Frage nicht auch während der Verhandlung von Juristen so geäußert wurde. Zur Aufklärung aller Beteiligten hier noch ein paar Erklärungen:
“Pädophil” ist eine Selbstbezeichnung der Täter, die von Opfern sexualisierter Kindesmisshandlung abgelehnt wird. Das, was kindliche Opfer erleben müssen und mussten, hat mit “Kinderliebe” (Pädophilie) nichts zu tun. Auch diese Tätergruppe begeht strafbare sexualisierte Kindesmisshandlungen.
Etwa geschätzte zwei bis zehn Prozent aller Täter können einem sexuell ausschließlich auf Kinder fixierten Tätertyp zugeordnet werden. Rund 90 Prozent aller Täter sind nicht ausschließlich auf Kinder fixiert, sondern ihre primäre sexuelle Orientierung ist auf Erwachsene gerichtet, sie sind jedoch ebenfalls durch Kinder sexuell erregbar.
In seinem Buch “Gebrochene Rosen” charakterisiert der Amerikaner Ron O’Grady den “typischen Pädophilen” so: “Er ist ein Akademiker oder freiberuflich arbeitender Mann mittleren Alters. Möglicherweise ist er Arzt (häufig Kinderarzt), Lehrer, Sozialpädagoge oder Geistlicher. Meistens hat er beruflich mit Kindern zu tun oder ist in seiner Freizeit in der Kinderarbeit engagiert. Er ist wahrscheinlich verheiratet oder war es und hat Kinder.”
Da sowohl Inzest als auch “Pädophilie” sexuelle Kontakte mit Kindern beinhalten, so Josephine Rijnaarts (“Lots Töchter”, 1988), liege es nahe, beide Erscheinungen miteinander in Verbindung zu bringen. Das könne zu der Annahme führen, Inzest sei so etwas wie “Pädophilie” in der Familie. Doch es bestünden zwischen beiden wesentliche Unterschiede: Zum Einen, dass die “Pädophilen” selbst eher die Öffentlichkeit suchten und “Pädophilie” zum Diskussionsgegenstand machten, während beim Inzest die Täter alles tun, um die Taten zu verheimlichen oder später zu verleugnen. “Pädophile wollen das Interesse der Öffentlichkeit, inzestuöse Väter nicht” , so Rijnaarts.
Doch wie bei allen anderen Tätern sexualisierter Kindesmisshandlung geht es auch den “Kinderliebenden” letztlich nur um die Befriedigung ihrer eigenen sexuellen Interessen. Deshalb muss klar sein: Auch das, was so genannte “Kinderfreunde” mit Kindern anstellen, ist sexualisierte Kindesmisshandlung – und damit strafbar. Das bedeutet aber nicht, dass JEDE sexualisierte Kindesmisshandlung von einem so genannten “Pädophilen” durchgeführt wird, bzw. dass für jede sexualisierte Kindesmisshandlung die so genannten “Pädophilie” die Ursache ist.
„Der Verurteilte darf seinen Wohnort frei wählen“ – ja, dieses Recht habe alle Menschen, die es nicht verwirkt haben. Im vorliegenden Fall wäre es wohl besser gewesen, den Täter vorübergehend anderweitig unterzubringen, damit er in Ruhe über sich, seine Taten und das Leid eines kleinen, fünfjährigen Jungen nachdenken kann.
Elke Nurmut – Überlebende sexualisierter Gewalt in der Kindheit
P.S.: Ein Teil der Zitate wurde den FAQ auf www.mutmachen.info entnommen