Zu Risiken und Nebenwirkungen von Psychotherapie – Ein Artikel von Klaus Schlagmann

Ein sehr lesenswerter und für alle Betroffenen und Nicht-Betroffenen hilfreicher Artikel des kritischen Psychotherapeuten Klaus Schlagmann.
„Missbrauchsopfer sind Lügner“ ist Teil des Gesamtwerkes „Missbrauchsopfer? – Selbst Schuld!
Zu Risiken und Nebenwirkungen von Psychotherapie“, erschienen Ende 2011 in der Zeitschrift Sexuologie, 18, 3-4, S. 193-200. Den vollständigen Artikel finden Sie hier: Klick!

Vielen Dank an Herrn Schlagmann für die Genehmigung zur Einstellung auf Mutmachen!

Missbrauchsopfer sind Lügner

Noch in jüngster Zeit gibt es fatale Aussagen zur Lügenhaftigkeit von Opfern sexualisierter Gewalt. So antwortet Jörg Fegert in einem Interview (für die Jugendseite der Südwest Presse,  Ausgabe vom 02.11.2010) auf die Frage: „Wann wird Lügen krankhaft?“: „Es gibt Menschen, die fast in jeder Lebenssituation lügen. Sie haben häufig jahrelange Misshandlung oder sexuellen Missbrauch erlebt und mussten lügen und vertuschen. Wenn wir solche Kinder oder Jugendliche auf Station haben, erwecken sie erst ein enormes Mitleid in der Gruppe, dann spaltet sich die Stimmung aber und am Schluss mag sie keiner. Hinzu kommt, dass man ihnen auch tatsächliche Erlebnisse nicht mehr glaubt.“ Auf den heftigen Protest von Betroffenen revidierte Fegert seine Aussage und entschuldigte sich damit, dass er ursprünglich an das „seltene Krankheitsbild der Pseudologia Phantastica“ gedacht habe; „Patientinnen und Patienten mit dieser Störung … [sind] eben nicht primär narzisstische Aufschneider, sondern in den Fällen, die ich behandelt habe, Kinder, welche reale Misshandlungs- und Missbrauchserfahrungen über Jahre hatten, aber auch von ihrem Umfeld immer wieder zu Ausreden und Lügen angehalten wurden, und die dann eine solche Störung entwickelt hatten, die dazu führte, dass niemand ihnen Glauben schenkt. Da dieses Krankheitsbild eine spezielle Störung ist, die nur sehr wenige Menschen aufweisen, steht sie mit der Vielzahl der Missbrauchsopfer nicht in Zusammenhang.“

Ein Spezialist für „Pseudologia Phantastica“ bin ich nicht. Bei einem kurzen Stöbern im Internet habe ich jedoch bei diversen Fachbeiträgen immer nur eines gefunden: Die Ätiologie dieser Störung sei völlig unklar. Insofern hat Fegert also entweder eine bahnbrechende Entdeckung gemacht, oder aber das Ausweichen auf ein sehr spezielles Gebiet soll dazu dienen, den argumentativen Skandal abzubiegen und die Verfolger abzuschütteln. Mir scheint das Letztere der Fall zu sein.

Gerade weil es – wie hier dargestellt – eine unrühmliche Tradition in der Psychotherapie-Szene gibt, die Opfer von sexualisierter Gewalt nicht ernst zu nehmen, sondern sie selbst wiederum zu Tätern zu erklären, ist m.E. Fegerts Darstellung völlig unakzeptabel. Er hat sich damit in meinen Augen unglaubwürdig gemacht. Da er als „Experte“ auch dem „runden Tisch – sexueller Kindesmissbrauch“ angehört, hat er m.E. auch der Glaubwürdigkeit dieses ganzen Gremiums geschadet.

Aus Fehlern wird man klug. Manchmal dauert es (leider) etwas länger, bis sich die problematischen Auswirkungen von bestimmten Gepflogenheiten deutlich zeigen. Erst dann besteht die Chance, sie ausgiebig zu diskutieren und zu bearbeiten. Im Zuge der jüngeren Missbrauchsdebatte kamen Kirchen und Reformpädagogik im Hinblick auf den Schutz Jugendlicher vor sexualisierter Gewalt auf den Prüfstand. Im Umkreis dieser Debatte ist es m.E. wünschenswert, dass sich auch die Psychotherapie-Szene an eine längst überfällige Aufarbeitung ihrer Schattenseiten macht, die sich gerade im Umgang mit den Opfern sexualisierter Gewalt zeigen.

Bisweilen passieren auf dieser Welt Dinge, bei denen man sich kaum vorstellen mag, dass sie sich tatsächlich so zugetragen haben. Und leider ist es oft dazu noch allzu schwer, selbst im Nachhinein offen darüber zu diskutieren. Vielleicht vermag ja dieses Heft der Sexuologie einen weiteren Anstoß zu einer konstruktiven Auseinandersetzung zu leisten.

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