„Wege aus der Angst – Gewalt gegen Frauen“ von Ingrid Olbricht

In dem vom Beck-Verlag verlegten Buch „Wege aus der Angst – Gewalt gegen Frauen“ von Ingrid Olbricht fand ich sehr hilfreiche Textpassagen über den Umgang von TherapeutInnen mit traumatisierten Menschen. Der Beck-Verlag erteilte mir die freundliche Erlaubnis, diese Passagen auf „Mutmachen“ veröffentlichen zu dürfen:

„Alle Verfahren, die triggern können, sind vor einer ausreichenden Stabilisierung kontraindiziert. Die Aufforderung, „alles rauszulassen“, also kathartische Verfahren, bedeuten eine Retraumatisierung oder Reaktualisierung des Traumas, und damit sind sie sinnlos und schädlich. Ebenfalls schädlich sind die meisten regressionsfördernden Maßnahmen, da möglicherweise die Förderung der Regression direkt ins Trauma führen kann. Bei früh traumatisierten Frauen ist das vortraumatisierte „Ich“ meistens nicht erreichbar.

Schädlich ist alles, was Grenzen verletzt, nämlich eindringende Fragen, Insistieren auf bestimmte Antworten, manche Methoden der Kreativverfahren, die nicht Grenzen setzen, sondern sie verwischen, ebenso aber auch alle direktiven und damit grenzverletzenden Methoden, die Autonomie, Selbststeuereung und Kontrolle nicht üben, sondern reduzieren. Diese führen in der Regel zur Reizüberflutung. Ebenso wichtig ist es, Scham- und Schuldgefühle erst einmal nicht infrage zu stellen, da sie Ressourcen des Überlebens darstellen. Es ist klar, bei wem die Schuld für Gewalt liegt, nämlich beim Täter.

Besonders schädlich ist es, eine „Versöhnung“ mit dem Täter anzustreben, außer vielleicht in einer sehr späten Phase der Therapie und wenn der Täter sich wirklich verändert hat, zum Beispiel in einer eigenen Therapie. Diese Vorstellung triggert meist das Trauma, sie reduziert die Realschuld des Täters und dient damit letztlich dem Täterschutz.

Anforderungen an Therapie/Therapeutin:

Von der Therapeutin oder dem Therapeuten sind Umdenken und Umlernen gefordert, e in Umstrukturieren auch der äußeren Therapiebedingungen in einigen Therapiephasen und insbesondere persönliche Integrität und klare ethische Vorstellungen. (.)

Bewusstwerdung und Selbsterfahrung bei Therapeutin/Therapeut haben in der Traumatherapie einen besonders hohen Stellenwert. Tabuisierungen, insbesondere eigene, müssen geklärt werden; ebenso muss der gesellschaftliche Konsens des üblichen Täterschutzes deutlich sein, der sich überall zeigt, in der Diagnostik, in der Einschätzung bzw. in der Verleugnung von traumabedingten Phänomenen, in den vielfältigen Schuldverschiebungen, etwa auf die Mütter oder die Opfer selbst, in der unrealistischen Wertung der Traumafolgen und im Umgang mit den gravierenden Konsequenzen, ebenso in der Wortwahl für Opfer und Täter und in deren Bewertung, die auffallend viele Doublebinds produziert. Deshalb muss der eigene Umgang [der Therapeutin] mit Doublebinds geklärt werden.

Die Co-Täterschaft der gesellschaftlichen Strukturen muss bewusst gemacht und infrage gestellt werden. Es geht in der Traumatherapie auch um Selbstüberprüfung, um Flexibilität, Achtung und Würdigung, es geht um mehr als Empathie. (.)

Die hirnbiologischen Besonderheiten müssen bekannt sein und in die Therapie einbezogen werden. Das bedeutet ein Infragestellen der Theorien von der seelischen Struktur des Menschen und eine Umorientierung, also auch Flexibilität. Es müssen mit den zwei Gedächtnisstrukturen, überspitzt gesagt, auch zwei „Unbewusste“ und bei Dissoziatiativen Identitätsstörungen sogar mehrere oder viele „Unbewusste“ vorausgesetzt werden, da jede Teilpersönlichkeit andere Erinnerungen und Erfahrungen gespeichert hat. Das Modell von Bewusstsein und Unbewusstsein muss bei der Traumatherapie relativiert und modifiziert werden.

Die klare Strukturierung eines Drei-Phasen-Modells der Therapie [Stabilisierung, Traumabearbeitung, Integration] erleichtert einerseits das therapeutische Vorgehen. Die Verlockung, mühsame und langwierige Phasen zu überspringen, und der ökonomische Druck der Kostenträger sind ebenfalls zu reflektieren. Traumatherapie unter Druck ist Retraumatisierung oder eine Reaktualisierung der vorangegangenen Traumata, ohne Zeit für die dringend erforderliche innere Entwicklung zu lassen.

Ebenso ist es wichtig, die Machtverhältnisse in der Therapie zu verbalisieren und damit die Bedeutung der Täter-Opfer-Dynamik einzuführen und anzuerkennen und Heilserwartungen und Idealisierungen wahrzunehmen. Die positive Wertung von Ressourcen, auch von paradoxen und am Anfang schädigenden, wie Autoaggressivität, Schuldgefühlen oder Dissoziationsfähigkeit, sollte Voraussetzung sein. Eine Bearbeitung der Abwehr oder des Widerstands in der Therapie kann in der

Traumatherapie nicht erfolgen, vielmehr stellt dies die Fähigkeit der Patientin, sich zu schützen, infrage und arbeitet der Ressourcenorientierung entgegen, sie kann erneut traumatisieren und die Dissoziation verstärken. Abwehr muss als Lebensstrategie und als Fähigkeit zum Schutz benannt und wertgeschätzt werden.

Realitätsprüfungstechniken sind nur begrenzt einsetzbar, da zum einen die Traumarealität nicht zu verstehen ist und auch mit größter Anstrengung nicht einfach zugeordnet werden kann. Zum anderen werden Flashbacks für aktuelle Realität gehalten und können nicht von ihr unterschieden werden.Hinzu kommt die Störung der Entwicklung von Ich-Funktionen, die auch die Realitätsprüfung betrifft. Realitätsprüfungen können daher das Gefühl des Versagens und der Unfähigkeit und damit die Opferrolle verstärken.

Auch der Begriff der Regression muss in der Traumatherapie neu definiert werden, denn regressives Verhalten, wie der Umgang mit Übergangsobjekten (Teddybär) oder Kissen und Decken, ist eher der Anfang von Selbstfürsorge und damit progressiv, ebenso wie der Schutz, den etwa das Sitzen auf dem Boden oder in einer Ecke darstellt. Die Aufforderung, etwas daran zu verändern, ohne vorherige Reflektion, welche Schutzfunktion das Verhalten hat, kann daher rasch in der Patientin als Verbot von Schutz oder als Bestätigung, dass sie einen Schutz nicht wert ist, und damit als Bestätigung des „bösen Selbst“ verstanden werden. (.)

Wichtig sind vor allem die eigene Authentizität und Integrität [der Therapeutin] sowie der Respekt vor der Überlebensleistung der Patientin. Aber gerade das ist bei heftigen Gegenübertragungssituationen besonders schwierig. Daher ist die reflektierende Beschäftigung mit eigenen Ressourcen und Schutzmechanismen in der Traumatherapie für Therapeutinnen und Therapeuten so besonders wichtig. (.)

Erschwert wird die Therapie mit Frühtraumatisierten zusätzlich durch die Struktur des derzeitigen Gesundheitswesens. Weder die Ausbildungsrichtlinien und Ausbildungsmöglichkeiten, noch die psychiatrische und psychotherapeutische Versorgung oder die Begutachtungspraxis beziehen die neueren Forschungsergebnisse der Psychotraumatologie in angemessener Weise ein. So kommt es immer wieder zu Situationen, die von struktureller Gewalt geprägt sind, strukturelle Gewalt wird als neues Realtrauma erlebt. Und das erschwert die Therapie, führt zu Reaktualisierungen oder Retraumatisierungen und stellt damit einen nicht zu vernachlässigenden Kostenfaktor dar.“

1 Gedanke zu „„Wege aus der Angst – Gewalt gegen Frauen“ von Ingrid Olbricht“

  1. Die gewählten Textpassagen kann ich vollends unterstreichen und decken sich mit den Erfahrungen meiner Traumatherapie. Nicht viele Betroffene haben das Glück, an eine/n gute/n TherapeutIn zu geraten. Leider!

    Im dritten Abschnitt des Textauszuges ist zu lesen:
    Zitat: „Besonders schädlich ist es, eine “Versöhnung” mit dem Täter anzustreben, außer vielleicht in einer sehr späten Phase der Therapie und wenn der Täter sich wirklich verändert hat, zum Beispiel in einer eigenen Therapie.“

    Die Ausnahme, die hier die Autorin anbringt, unter welchen Bedingungen eine Versöhnung mit dem Täter eventuell anzudenken sei, kann ich in keinster Weise teilen.

    Die Bedingungen darf sich nicht an einem eventuell, veränderten Verhalten der Täters richten,(Einsicht durch Therapie oder Reue…) da somit dem Täter erneut wieder die Macht über Entscheidungen des Opfers – des Betroffenen übertragen werden würde.

    NEIN, hier darf einzig und allein die Bedingung lauten: „…außer das OPFER, der BETROFFENE möchte eine Versöhnung mit dem Täter unbedingt anstreben!!!

    Die Entscheidung MUSS also iMMER – und auch hier beim Betroffenen liegen, und zwar komplett unabhängig vom Befinden, von der Entwicklung des Täters. Damit MUSS sich ein Betroffener, ein Opfer nicht auseinander setzen. Es geht hier nicht um den Täter, sondern einzig und allein um das Befinden des Opfers!!! Nur so wird dem jeweiligen Betroffenen und SEINE Wünsche respektiert. Alles andere käme einer Täterorientierung gleich, die schwer retraumatisieren und triggern kann, und das Vertrauen zum Therapeuten komplett zerstören kann.
    Ob sich ein Täter verändert oder wie dieser empfindet, ist in der Therapie eines Betroffenen unrelevant. Hier sollte einzig und allein der Betroffene Mittelpunkt der Therapie sein und daher sein Befinden, seine Bedürfnisse, seine Ziele im Zentrum der Therapie gestellt werden.

    Eine Therapie darf sich nicht am Täter und dessen Entwicklung orientieren. NIE!!!! Das wäre fatal.
    Die Aufgabe des Therapeutin kann, falls der Klient unbedingt eine Versöhnung anstreben möchte, nur darin liegen, den Betroffenen zu stabilisieren, ihn dazu vorzubereiten, Eventualitäten abzuklären usw.
    Ansonsten durchwegs sehr gute Ansätze, die ich dank meiner Therapeutin seit Jahren auch in der Praxis erfahren darf.
    Sarah Mohn

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