Über das Verzeihen

Viel zu oft bekommen Überlebende sexualisierter Gewalt im Kindesalter den „gut gemeinten“ Rat zu hören, ihren Peinigern doch endlich zu verzeihen, mit „damals“ abzuschließen, um wieder frei und in Liebe leben zu können. Wir haben dieses Thema im Mutmachen-Forum diskutiert, einige Userinnen haben sich mit ihren sehr klugen und erfahrenen Sätzen zu Wort gemeldet, wofür ich ihnen herzlich danke!
Zum „gut gemeinten“ Rat kann ich nur sagen: Das Gegenteil von „gut“ ist „gut gemeint“!
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Was mit uns veranstaltet wurde, ist ein Verbrechen, welches nicht einmal gesühnt worden ist. Wir versuchen – und schaffen es irgendwie auch – damit zu leben. Wir haben nur die Möglichkeit die Zukunft zu verändern, nicht die Vergangenheit.
Irgend ein schlauer Mensch hat einmal gesagt, dass als Nestbeschmutzer immer derjenige gemeint ist, welcher auf den Schmutz hinweist – nie sind damit diejenigen gemeint, die den Schmutz ins Nest gebracht haben.
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„…nicht in der Vergangenheit herumzustochern…“
Das ist meines Erachtens eine erneute Art der Verdrängung und feige! Sich mit der Vergangenheit konsequent auseinander zu setzen, zeugt von Reife und Mut! Denn es ist ja kein Honigschlecken und Therapie ist kein Streichelzoobesuch!
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Ich bin es so leid zu erklären, zu reden und mir sowas anzuhören.
Ja, kann ja gut sein, das sie auch Schlimmes erlebt haben (gemeint sind hier Eltern, die einfach wegschauen und ihren Kindern nicht beistehen), sicher sogar, denn sonst würden sie das ihren Kindern nicht antun.
Aber warum wird das immer damit entschuldigt und warum müssen wir uns noch verteidigen, wenn wir eine Therapie machen oder Medikamente nehmen müssen? Wenn uns Dinge triggern, wenn wir nach Flashbacks tagelange Ruhe brauchen und uns verkriechen, wenn wir mit manchen Dingen so gar nicht klar kommen, die andere einfach hinnehmen würden? Das ist doch nicht fair und ich habe keinerlei Nerv mehr, mich dauernd zu verteidigen und mich dauernd selbst in Schutz nehmen zu müssen, weil meine Eltern nicht in der Lage dazu waren und mir großen Schaden zugefügt haben.
Richtig, sie haben mir Schaden zugefügt und nicht ich ihnen!
Und ich muss gar niemandem verzeihen, und meinen Tätern schon gar nicht. Nicht ich muss den ersten Schritt machen, ganz im Gegenteil. Das macht mich einfach wütend.
Ich glaube, man kann solche Dinge nicht verzeihen, man kann vielleicht, das weiß ich nicht genau, irgendwann loslassen von den Gefühlen dieser Person gegenüber, so erlebe ich das im Moment, ob es von Dauer ist, weiß ich nicht. Aber ich glaube nicht, dass man solche grausamen Dinge einfach wegschieben und vergeben kann.
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Dass einer Mutter ebenfalls Gewalt angetan wurde, kann ja durchaus stimmen, ist aber doch keine Entschuldigung dafür, dass sie sexuelle Gewalt an ihrem Kind duldet!
Und schon überhaupt kein Grund für irgend ein „Verzeihen“ – unsererseits. Denn: Wir haben ja auch trotz unserer SCH….. Kindheit unsere Kinder nicht missbraucht. Sind weder zur Täterin noch zur Mittäterin geworden.
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Vieles habe ich zum Thema „Verzeihen“ schon gelesen; und alles, was nicht gerade aus der Täterecke stammt, weist EINDEUTIG darauf hin, dass Verzeihen – zumindest als einseitiger Akt (nur vom Opfer aus) sogar SCHÄDLICH ist und eine erneute Form von Gewalt darstellt.
Erstens muss also festgehalten werden, dass Menschen uns mit dieser Aussage nicht nur die Empathie verweigern, sondern auch noch Gewalt antun – auch wenn wir alle das häufig schon gar nicht mehr als Gewalt wahrnehmen, weil es so „normal“ ist. Und das ist das Problem: Wir leben in einer täter- und gewaltdominierten Gesellschaft, in der Täter- und Gewaltverhalten schon gar nicht mehr als solches wahrgenommen und entsprechend schon gar nicht mehr in Frage gestellt wird. Es gilt als die „Normalität“ und deshalb schränkt es auch die Wahrnehmung des Strafbaren und oder Menschenverachtenden, das darin liegt, massiv ein.
Lange habe ich übrigens auch auf der Esoterik-Schiene Hilfe gesucht. Mittlerweile halte ich das, was dort abläuft, für weitestgehend gefährlich. Das soll nicht heißen, dass ich solche Wege nicht respektiere, wenn sie einzelne gehen wollen. Wie gesagt: Ich habe da auch schon vieles ausprobiert. Aber ich halte es gerade für Folteropfer (als die ich uns ansehe) für äußerst gefährlich, u.a. weil in der Esoterik viel Manipulation im Spiel ist (ähnlich wie bei anderen „Religionen“, in denen manche SCHEINBAR mehr wissen als andere) und weil es im Grunde die alten (Eltern-)Strategien von Autorität (der Schamane „weiß“ und ich habe zu glauben – wie damals) wiederholt. Ich glaube, dass nicht jeder, der sich SELBST „Schamane“ nennt, auch ein solcher ist. Dort, wo Schamanismus (und andere Formen von Spiritualität) ursprünglich herkommen (bspw. Indianer), bestehen ganz andere Vorstellungen vom Leben und seinen Zusammenhängen überhaupt. Das lässt sich nicht so einfach auf unsere Kultur/Sozialisation übertragen, wie das von selbsternannten „Schamanen“ (oder „Zen-Meistern“ usw.) aber gerne getan wird.
Kurzum: Bei dem, was uns geschehen ist, handelt es sich um Verbrechen. Das ist mal immer das erste, was man den Leuten (leider immer noch) klar machen muss. Das sind STRAFTATEN, auf die in Deutschland – theoretisch jedenfalls – Haftstrafen stehen! Dieser FAKT wird leider durch die bisherige Strafpraxis verschleiert, aber so ist es.
Wieder beim „Verzeihen“ angekommen, frage ich mich auch, wo denn die Natur „verzeiht“? Ich meine, wenn wir jahrelang das Klima verpesten und daraufhin die Überschwemmungen und Hurrikane zunehmen, können wir doch auch nicht die Natur auffordern, uns zu verzeihen – und dann ist alles wieder „gut“! Die Natur wird ja – gerade in diesen esoterischen „schamanischen“ Kreisen – gerne als das absolut „Gute“ dargestellt. Die Natur ist aber ganz sicher nur eines: GERECHT. Und das kann schon auch mal ziemlich weh tun. Also: „Verzeihen“ ist nichts Natür-liches, sondern ein menschengemachtes Konstrukt, und hinter menschengemachten Konstrukten stecken immer menschengemachte Interessen. Zumeist einseitige.
Spannend beim Thema „Verzeihen“ (also wenn es von anderen an uns heran getragen wird) finde ich auch immer, dass dies eine sehr einseitige Aufforderung – nämlich an die Opfer! – ist. DARIN liegt übrigens für meine Begriffe ein Teil der Gewalt, die mit dieser Aufforderung verbunden ist. Niemand stellt sich hin und fordert erst einmal von den Tätern gewisse Schritte, DAMIT ihnen evtl. einmal verziehen werden kann, sondern alle wollen gleich ans Ende des Prozesses kommen, nämlich zum Verzeihen.
Ich lese gerade ein Buch über die Würde des Menschen. Darin heißt es zum Thema Wiedergutmachung von Schuld u.a. [NATÜRLICH auf den Schuldigen bezogen!!]:
„Schuld kann abgetragen werden wie eine finanzielle Verschuldung:
(a) Schuld-Einsicht
(b) Gewissens-Scham, sublimiert zu Reue und persönlicher Veränderung
(c) Eingeständnis seiner Schuld gegenüber dem Opfer
(d) Bitte um Entschuldigung
(e) Angebot von Wiedergutmachung.“
Denen, die zum Verzeihen raten, möchte ich zusätzlich zum „Natur“-Vergleich auch noch sagen, dass wir bisher ja nichtmal von den Tätern um Verzeihung GEBETEN worden sind!
Mal ganz abgesehen davon, dass von den Tätern obige fünf Schritte nicht mal gefordert werden! Nein, es wird einfach abgekürzt und den Opfer auferlegt, „ins Blaue hinein“ zu verzeihen, häufig verbunden mit dem Heilsversprechen: „Dann geht es DIR besser“. Doch das Gegenteil ist der Fall, wie meine anderen klugen Zitate beweisen:
„Besonders schädlich ist es [vonseiten der Therapeuten, MM], eine „Versöhnung“ mit dem Täter anzustreben, außer vielleicht in einer sehr späten Phase der Therapie und wenn der Täter sich wirklich verändert hat (…). Diese Vorstellung [zu verzeihen, MM] triggert meist das Trauma, sie reduziert die Realschuld des Täters und dient damit letztlich dem Täterschutz.“ (Dr. med. Ingrid Olbricht)
Und ICH behaupte, dass das auch Sinn und Zweck der Aufforderung zu Verzeihen ist, auch bei den Mittäter/innen! Auch SIE haben Angst davor, für ihre Mittäterschaft zur Rechenschaft gezogen zu werden, wenn man die Schuld der Täter thematisiert und deshalb verbünden sie sich mit den Tätern – statt mit den Opfern – und fordern diese auf, auch weiterhin die Sache mit sich alleine auszumachen. Und das ist neuerliche Gewalt!
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Indem man Betroffene drängt oder empfiehlt, den Tätern zu verzeihen, katapultiert man sie erneut in die Opferrolle. Und das ist erneute Gewalt!
Mir kam eben ganz spontan – als ich die Parallele zu Religionen, esoterischen Bewegungen las, der Satz wieder in den Sinn, der während meiner Klosterzeit beinahe bei den Nonnen schon zu einer Parole wurde:
„Das oder jenes opfern wir auf!“
Genau darum geht es in Religionen! Wieder zum Opfer degradieren, wieder unter dem Deckmantel einer Religion klein gehalten werden, Gefühle – die „böse“ sind wie Wut, Zorn, Hass, Nicht – Verzeihen – Können – zu unterdrücken, den „Heiligenschein“ oder die „Reinheit“ darüber zu stülpen.
Da ist das kleine reine Kind – und dort ist die große Macht – sei es die Natur, der man eine überdimensionale Macht zuschreibt, sei es ein Gott – der über allem thront, sei es Allah, für die sich fanatisch Gläubige opfern und in die Luft sprengen… Immer geht es um ein Machtgefälle!!! Alles Ausschließliche ist mir mittlerweile suspekt. Religionen sind ausschließlich!
Was ich eigentlich sagen wollte… Ich spüre durch diese Diskussion genau diese Ambivalenz. Einerseits das Bedürfnis, mich von all diesem aufgepfropften Zwang zu befreien, und nur das zu tun, was für mich stimmig ist. Also in meinem Fall – nicht zu verzeihen, sondern es irgendwann neutral werden zu lassen, MICH zu befrieden – und unberührt davon
zu werden, was meine Täter tun und wie es ihnen geht.
Aber immer wenn ich solche Zeilen lese, die da lauten: Jemand hat wieder gesagt, man müsse doch den Mitwissern, Vertuschern, Tätern verzeihen – spüre ich dieses wohlerzogene, streng religiös erzogene Kind in mir und höre zugleich die Drohungen der Täter/Innen, die mir die Schuld für alles geben. Solche Sätze lösen in mir unweigerlich das Gefühl aus, wieder in der Gewalt von anderen zu sein, keine freie Entscheidungsmöglichkeiten zu haben, wieder meinen eigenen Gefühlen und meinem eigenen Empfinden nicht trauen zu dürfen, wieder bestimmt zu werden in Dingen, die ganz persönlich, intim und individuell sind.
Und ich spüre die Abwehr, mich solchen Unterwerfungen nicht mehr beugen zu wollen. Ich spüre die Wut, die Menschen in mir auslösen, wenn sie so etwas von Betroffenen verlangen. Ich spüre das Unverständnis, das diese Menschen Betroffenen gegenüber entgegenschleudern.
Und ich wünschte, sie würden endlich begreifen, und wenn schon nicht das – was ohnehin schon einem Wunder gleichen würde, dann zumindest respektieren, akzeptieren, dass dies eine ganz persönliche, intime Entscheidung jedes einzelnen Betroffenen ist und niemanden anderem etwas angeht.
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Allen Erkenntnissen zum Trotz gibt es immer noch Leute, die am liebsten den Mantel des Vergessens über Dinge breiten möchten, die sie nicht in ihrer Welt sehen wollen. Aber die moderne Psychotherapie und auch die Betroffenen selbst zeigen, dass es so nicht funktioniert, ohne sich selbst immer wieder zum Opfer und „Schuldigen“ zu machen und sich selbst zu schädigen.
Die gängige Praxis, die auch Erfolge bringt, ist nun einmal, Methoden zu lernen, um an das Vergangene erst einmal ran zu kommen, es anzuschauen, an den rechten Platz (Schuld ausschließlich beim Täter) zu rücken und dann Stück für Stück aufzuarbeiten. Das dauert Vielen zu lange, soviel Geduld haben sie nicht und verunsichern dann lieber die ohnehin schon geschädigten Menschen.
Wir lassen uns nicht beirren, wir gehen den Weg der Gesundung, wir müssen niemandem vergeben, der uns Gewalt angetan hat. Irgendwann wird aber alles an dem Platz sein, der ihm gebührt, und dann können wir auch unseren Frieden machen mit denen, die uns das angetan haben und nicht, um sie zu rehabilitieren, sondern um selbst wieder gut leben zu können.
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Eines möchte ich zum Thema „Verzeihen“ noch hinzufügen:
Generell bin ich nicht nachtragend. Und ich denke, dass viele Betroffene nicht nachtragend sind, heißt – mit dem Thema „Verzeihen“ in der Regel kein Problem haben.
Tätern von sexueller Gewalt an Kindern zu verzeihen, ist jedoch ein anderes Kapitel. Hier wurde gezielt und ganz bewusst einem wehrlosen Kind massiv geschadet Hier wurde gezielt und ganz bewusst wehrlosen Kindern/Jugendlichen Gewalt angetan. Hier wurde gezielt und ganz bewusst Kindern/Jugendlichen auch noch die Schuld dafür gegeben, dass man ihnen so viel Schmerz zufügte. Hier wurde gezielt und ganz bewusst alles vertuscht, verborgen gehalten, in dem man den Kindern/Jugendlichen auch noch mit Mord oder anderen schrecklichen Dingen drohte, würden sie es wagen, auch nur ein Wort darüber verlauten zu lassen. Und das meist über Jahre hinweg.
Ich für meinen Teil habe inzwischen die Auffassung, dass es für uns Betroffene schon ein sehr weiter Schritt ist, wenn wir es geschafft haben, den Tätern keine Macht mehr über unsere Gefühle, über unser weiteres Leben einzuräumen, und damit unser Leben selbst in die Hand zu nehmen. Dass wir aus der Opferrolle und aus den Ohnmachtsgefühlen, die damit einhergehen, herausgefunden und uns davon befreit haben.
Wo kein Opfer, hat auch der/die TäterIn keine Macht mehr über uns! Das klingt jetzt vielleicht verwirrend, ist aber dennoch logisch. Solange wir in der Opferrolle verharren, haben unsere Täter immer noch Macht über uns, können unser Gefühlsleben, unser Befinden bestimmen.
Mein Ziel ist nun, nachdem ich von allen abgespaltenen Traumen weiß, gegenüber den TäterInnen ein neutrales „Gefühl“ zu erlangen. Dahin möchte ich für mich ganz persönlich wieder kommen. Unabhängig von meinen TäterInnen zu werden, indem sie keinen Platz mehr in meinem Leben bekommen. Keinen Gedanken, keine Gefühle, keine Macht über mein Befinden.
Wir Betroffenen haben ausreichend mit den Folgeschäden zu tun, da habe ich einfach keine Lust, mich auch noch mit den TäterInnen und deren Befinden, deren Beweggründe und warum sie zum Täter geworden sind zu beschäftigen.
Man kann niemanden „ent – Schuld – igen“, der nicht einmal wahrnimmt, dass er Schuld auf sich geladen hat.
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Wie würden Nichtbetroffene reagieren, würde man von ihnen verlangen, sie müssten mit all ihren Expartnern, Exfreunden etc., mit denen sie im Streit auseinander gegangen sind, Weihnachten feiern, oder sie wieder in ihren Bekannten- und Freundeskreis aufnehmen, ihnen all das verzeihen, was sie ihnen an Wunden und seelischen Verletzungen zugefügt haben? Da würde der Part mit der Verzeihungsschiene sofort eine andere Richtung einschlagen. Aber von uns, denen man als wehrlose Kinder rohe Gewalt im vollen Bewusstsein und mit voller Absicht jahrelang zugefügt hat, verlangt man, man möge diesen Verbrechern verzeihen???
Vielen Dank, ihr lieben Mutmacherinnen, für eure Statements. Ich hoffe sehr, dass sich nun einige Augen und Ohren mehr öffnen werden!

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