Der grüne Spitzenkandidat Jürgen Trittin steckt mittendrin in der Pädophilie-Debatte. Doch sollten Parteien heute den moralischen Zeigefinger heben, deren Politiker den 80er Jahren Vergewaltigung in der Ehe noch in Ordnung fanden? Der Politikwissenschaftler Stephan Klecha rät: Vorsicht. Weiterlesen…
Allgemein möchte ich zu dieser aktuellen Debatte sagen:
Zunächst ist festzuhalten, dass der verallgemeinernde Begriff „Pädophilie“ für sämtliche Formen von sexualisierter Gewalt an Kindern falsch und irreführend ist. Von allen Tätern, die sexualisierte Gewalt an Kindern verüben, sind nach aktueller Forschungslage höchstens 5 – 10 % in einem psychiatrischen Sinne „pädophil“ (so genannte Präferenzstörung). Der große Rest nähert sich Kindern aus anderen Gründen. Damals wie heute.
Es wurde damals aber nicht die „Abschaffung der Pädophilie“ diskutiert, sondern die Abschaffung von einschlägigen Paragraphen, die es auch dem großen Rest der Täter straffrei ermöglicht hätte, sich Kindern sexuell zu nähern. Die undifferenzierte Verwendung des Begriffs „Pädophilie“ in der Debatte verengt den Fokus erneut auf einen emanzipatorischen Aspekt („Entkriminalisierung individueller sexueller Präferenzen“), während die große Gruppe derer, die ebenfalls ein ausgeprägtes Interesse an der Abschaffung der einschlägigen Paragraphen hatte und sich sicherlich entsprechend engagierte, wieder unsichtbar gemacht wird.
Ich möchte auch der Einschätzung widersprechen, die „völlig falsche und gefährliche Forderung, eine Form von Verbrechen zu legalisieren“ (O-Ton Schulte von Drach in Süddeutsche Online, 19.09.2013) sei harmloser zu bewerten als die Übergriffe innerhalb der RKK. Diese „völlig falsche und gefährliche Forderung“ mag bei Herrn Trittin und Konsorten keine tatsächlichen Übergriffe auf Kinder generiert haben. Sie hat allerdings dazu geführt, dass sich einschlägig interessierte Täter im Recht und sicher fühlten – in den Familien, in den Institutionen, wahrscheinlich auch in den Kirchen. Das heißt, die rückblickend als weitgehend folgenlos dargestellte gesellschaftliche Diskussion ist eben keinesfalls folgenlos geblieben! Sie hat ein öffentliches Klima erzeugt, das entsprechend interessierte Täter für sich genutzt haben. Damit tragen diejenigen, die damals so unkritisch mit diesen Fragen umgegangen sind, und erst recht diejenigen, die sie durch pseudowissenschaftliche Aussagen befeuert haben, zwar keine Verantwortung für eigene Straftaten, sie müssen sich aber einen Teil Verantwortung für die Straftaten anderer zuschreiben lassen.
Mich stört in der Debatte darüberhinaus der Tenor, die Forderung zur Abschaffung der einschlägigen Paragraphen sei doch schon so lange her und eben der damaligen so genannten „sexuellen Befreiung“ geschuldet. Das mag sein, aber die Opfer sind damit nicht automatisch vom Erdboden verschluckt worden. Im Gegenteil: Bei uns beginnen jetzt nach 30 Jahren die damals angeeigneten Überlebensmechanismen zusammenzubrechen! Uns holt die „Geschichte“ jetzt ein, und zwar mit wesentlich dramatischeren Folgen als für Herrn Trittin und Konsorten! Dazu kommt, dass die damaligen pseudowissenschaftlichen Verdrehungen (bsplw., dass sexualisierte Gewalt in der Kindheit keine Schäden verursache) ja in die einschlägigen Professionen Einzug gehalten haben. Vielen von uns wurde daher lange nicht zugehört und wir trafen auf „Fachleute“, die uns unter Berufung auf diese pseudowissenschaftlichen Erkenntnisse erneut traumatisierten.
Heute möchten sich die Beteiligten gerne mit dem Verweis auf den damaligen Zeitgeist und ihre zwischenzeitliche Distanzierung freisprechen. Diese Option gibt es für uns Betroffene nicht. Wir können uns von den schweren Schäden, die uns der damalige Zeitgeist eingebrockt hat, nicht freisprechen. Es ist nett, wohlfeile Worte des Bedauerns zu haben und rückblickend von „Fehlern“ zu sprechen – aber die Schäden an unseren Leben sind damit nicht behoben. Viele von uns haben schwere Nachteile (gesundheitlich, ökonomisch, sozial) aus diesen Erfahrungen, treffen aber nach wie vor auf Abwehr, wenn es jetzt darum geht, die Folgen des damaligen Zeitgeistes anerkannt und ausgeglichen zu bekommen. Das gehört zur ganzen Wahrheit dazu.