Viele Opfer sexueller Gewalt durchleben einen Stress, den Fachleute mit den Belastungen der Opfer von Geiselnahmen oder der Überlebenden von Konzentrationslagern vergleichen. Der traumatische Stress schlägt eine seelische Wunde, die oftmals über Jahre offen bleibt. Schlafstörungen, Albträume, Depressionen, Ängste, Panikattacken und aggressives Verhalten bis hin zu Selbstverletzungen, zermürbenden Erinnerungen, immer wiederkehrenden Suizidgedanken und Essstörungen – das ist die Liste der möglichen Langzeitfolgen, die der Trauma-Experte Andreas Krüger, Kinder- und Jugendpsychiater vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, nennt.
Zusammengefasst werden diese Symptome unter dem Begriff Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). Viele der Betroffenen haben Schwierigkeiten, sich überhaupt auf Beziehungen einzulassen, sagt der Psychiater. Studien weisen zudem darauf hin, dass frühkindliche Traumatisierungen die Wahrscheinlichkeit erhöhen, sozial zu scheitern, nicht in der Lage zu sein zu arbeiten. Auch das Risiko von Alkohol- oder Drogensucht steigt beträchtlich. (Stern.de)
Lange nachdem die Gefahr vorüber ist, erleben Traumatisierte das Ereignis immer wieder so, als ob es gerade geschähe. Es ist, als wäre die Zeit im Moment des Traumas stehengeblieben. Selbst kleine, scheinbar bedeutungslose Gegenstände können Erinnerungen wecken, in denen das ursprüngliche Ereignis oft extrem lebensecht und mit aller emotionalen Gewalt wiederkehrt.
Nach einer traumatischen Erfahrung scheint sich das Selbstschutzsystem des Menschen in einem ständigen Alarmzustand zu befinden, als könnte die Gefahr jeden Augenblick wiederkehren. Das normale Grundniveau wacher, aber entspannter Aufmerksamkeit fehlt. Bei ihnen ist das Grundniveau ein Zustand erhöhter Erregung: Ihr Körper ist immer in Alarmbereitschaft und auf eine Gefahr vorbereitet.
Die erhöhte Erregung hält im Wach- wie im Schlafzustand an, die Folge sind massive Schlafstörungen. Patienten mit posttraumatischer Belastungsstörung brauchen länger zum Einschlafen, reagieren empfindlicher auf Lärm und wachen in der Nacht häufiger auf als Gesunde.
Auch die normale Regulierung emotionaler Zustände ist durch traumatische Erfahrungen gestört, die immer wieder Terror, Wut und Trauer auslösen. Diese Emotionen verschmelzen schließlich zu einem furchtbaren Gefühl, das Psychiater „Dysphorie“ nennen und Patienten kaum beschreiben können. Verwirrung, Unruhe, ein Gefühl der Leere und absoluten Einsamkeit kommen dabei zusammen.
Erwachsene wie Kinder müssen oft zwanghaft den Schreckensmoment in offener oder verschleierter Form wiederholen (beispielsweise durch Selbstverletzungen). Die meisten Wissenschaftler vermuten, dass das häufige Wiedererleben der traumatischen Erfahrung einen spontanen, erfolglosen Heilungsversuch darstellt. Andere betrachten den Wiederholungszwang als Versuch, die übermächtigen Gefühle, die das Opfer im traumatischen Augenblick empfand, wiederzubeleben und zu bewältigen.
Das Wiedererleben bietet vielleicht die Gelegenheit, das Trauma zu bewältigen, doch die meisten Opfer warten nicht bewusst darauf und sind auch nicht froh darüber. Vielmehr haben sie große Angst davor. Das Wiedererleben einer traumatischen Erfahrung überfällt den Traumatisierten mit der emotionalen Intensität des ursprünglichen Geschehens. Er wird ständig von Angst und Wut geschüttelt. Diese Gefühle sind jedoch qualitativ verschieden von normaler Angst und Wut; sie liegen außerhalb des gewöhnlichen emotionalen Erfahrungsspektrums und überfordern das gewöhnliche Vermögen, Gefühle auszuhalten.
Weil das Wiedererleben einer traumatischen Erfahrung so starke schmerzliche Gefühle weckt, vermeiden Traumatisierte solche Erfahrungen, soweit es in ihrer Macht steht. Das Opfer nimmt die Mühe, die es kostet, intrusive Symptome abzublocken, zwar zu seinem eigenen Schutz auf sich, verschlimmert damit jedoch das posttraumatische Syndrom, denn der Versuch, ein Wiederbeleben des Traumas zu vermeiden, führt sehr oft zu einer Einengung des Bewusstseins, einem Rückzug aus zwischenmenschlichen Beziehungen und zu emotionaler Verarmung.
Je stärker ehemalige Opfer mit den Anforderungen des Erwachsenenlebens konfrontiert sind, desto schwerer lastet das Erbe der Kindheitserfahrungen auf ihnen. Irgendwann, oft erst im dritten oder vierten Lebensjahrzehnt, brechen die Abwehrmechanismen allmählich zusammen. (Judith L. Herman, „Die Narben der Gewalt“ , 2003)