Über das Verzeihen

Viel zu oft bekommen Überlebende sexualisierter Gewalt im Kindesalter den „gut gemeinten“ Rat zu hören, ihren Peinigern doch endlich zu verzeihen, mit „damals“ abzuschließen, um wieder frei und in Liebe leben zu können. Wir haben dieses Thema im Mutmachen-Forum diskutiert, einige Userinnen haben sich mit ihren sehr klugen und erfahrenen Sätzen zu Wort gemeldet, wofür ich ihnen herzlich danke!
Zum „gut gemeinten“ Rat kann ich nur sagen: Das Gegenteil von „gut“ ist „gut gemeint“!
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Was mit uns veranstaltet wurde, ist ein Verbrechen, welches nicht einmal gesühnt worden ist. Wir versuchen – und schaffen es irgendwie auch – damit zu leben. Wir haben nur die Möglichkeit die Zukunft zu verändern, nicht die Vergangenheit.
Irgend ein schlauer Mensch hat einmal gesagt, dass als Nestbeschmutzer immer derjenige gemeint ist, welcher auf den Schmutz hinweist – nie sind damit diejenigen gemeint, die den Schmutz ins Nest gebracht haben.
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„…nicht in der Vergangenheit herumzustochern…“
Das ist meines Erachtens eine erneute Art der Verdrängung und feige! Sich mit der Vergangenheit konsequent auseinander zu setzen, zeugt von Reife und Mut! Denn es ist ja kein Honigschlecken und Therapie ist kein Streichelzoobesuch!
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Ich bin es so leid zu erklären, zu reden und mir sowas anzuhören.
Ja, kann ja gut sein, das sie auch Schlimmes erlebt haben (gemeint sind hier Eltern, die einfach wegschauen und ihren Kindern nicht beistehen), sicher sogar, denn sonst würden sie das ihren Kindern nicht antun.
Aber warum wird das immer damit entschuldigt und warum müssen wir uns noch verteidigen, wenn wir eine Therapie machen oder Medikamente nehmen müssen? Wenn uns Dinge triggern, wenn wir nach Flashbacks tagelange Ruhe brauchen und uns verkriechen, wenn wir mit manchen Dingen so gar nicht klar kommen, die andere einfach hinnehmen würden? Das ist doch nicht fair und ich habe keinerlei Nerv mehr, mich dauernd zu verteidigen und mich dauernd selbst in Schutz nehmen zu müssen, weil meine Eltern nicht in der Lage dazu waren und mir großen Schaden zugefügt haben.
Richtig, sie haben mir Schaden zugefügt und nicht ich ihnen!
Und ich muss gar niemandem verzeihen, und meinen Tätern schon gar nicht. Nicht ich muss den ersten Schritt machen, ganz im Gegenteil. Das macht mich einfach wütend.
Ich glaube, man kann solche Dinge nicht verzeihen, man kann vielleicht, das weiß ich nicht genau, irgendwann loslassen von den Gefühlen dieser Person gegenüber, so erlebe ich das im Moment, ob es von Dauer ist, weiß ich nicht. Aber ich glaube nicht, dass man solche grausamen Dinge einfach wegschieben und vergeben kann.
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Dass einer Mutter ebenfalls Gewalt angetan wurde, kann ja durchaus stimmen, ist aber doch keine Entschuldigung dafür, dass sie sexuelle Gewalt an ihrem Kind duldet!
Und schon überhaupt kein Grund für irgend ein „Verzeihen“ – unsererseits. Denn: Wir haben ja auch trotz unserer SCH….. Kindheit unsere Kinder nicht missbraucht. Sind weder zur Täterin noch zur Mittäterin geworden.
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Vieles habe ich zum Thema „Verzeihen“ schon gelesen; und alles, was nicht gerade aus der Täterecke stammt, weist EINDEUTIG darauf hin, dass Verzeihen – zumindest als einseitiger Akt (nur vom Opfer aus) sogar SCHÄDLICH ist und eine erneute Form von Gewalt darstellt.
Erstens muss also festgehalten werden, dass Menschen uns mit dieser Aussage nicht nur die Empathie verweigern, sondern auch noch Gewalt antun – auch wenn wir alle das häufig schon gar nicht mehr als Gewalt wahrnehmen, weil es so „normal“ ist. Und das ist das Problem: Wir leben in einer täter- und gewaltdominierten Gesellschaft, in der Täter- und Gewaltverhalten schon gar nicht mehr als solches wahrgenommen und entsprechend schon gar nicht mehr in Frage gestellt wird. Es gilt als die „Normalität“ und deshalb schränkt es auch die Wahrnehmung des Strafbaren und oder Menschenverachtenden, das darin liegt, massiv ein.
Lange habe ich übrigens auch auf der Esoterik-Schiene Hilfe gesucht. Mittlerweile halte ich das, was dort abläuft, für weitestgehend gefährlich. Das soll nicht heißen, dass ich solche Wege nicht respektiere, wenn sie einzelne gehen wollen. Wie gesagt: Ich habe da auch schon vieles ausprobiert. Aber ich halte es gerade für Folteropfer (als die ich uns ansehe) für äußerst gefährlich, u.a. weil in der Esoterik viel Manipulation im Spiel ist (ähnlich wie bei anderen „Religionen“, in denen manche SCHEINBAR mehr wissen als andere) und weil es im Grunde die alten (Eltern-)Strategien von Autorität (der Schamane „weiß“ und ich habe zu glauben – wie damals) wiederholt. Ich glaube, dass nicht jeder, der sich SELBST „Schamane“ nennt, auch ein solcher ist. Dort, wo Schamanismus (und andere Formen von Spiritualität) ursprünglich herkommen (bspw. Indianer), bestehen ganz andere Vorstellungen vom Leben und seinen Zusammenhängen überhaupt. Das lässt sich nicht so einfach auf unsere Kultur/Sozialisation übertragen, wie das von selbsternannten „Schamanen“ (oder „Zen-Meistern“ usw.) aber gerne getan wird.
Kurzum: Bei dem, was uns geschehen ist, handelt es sich um Verbrechen. Das ist mal immer das erste, was man den Leuten (leider immer noch) klar machen muss. Das sind STRAFTATEN, auf die in Deutschland – theoretisch jedenfalls – Haftstrafen stehen! Dieser FAKT wird leider durch die bisherige Strafpraxis verschleiert, aber so ist es.
Wieder beim „Verzeihen“ angekommen, frage ich mich auch, wo denn die Natur „verzeiht“? Ich meine, wenn wir jahrelang das Klima verpesten und daraufhin die Überschwemmungen und Hurrikane zunehmen, können wir doch auch nicht die Natur auffordern, uns zu verzeihen – und dann ist alles wieder „gut“! Die Natur wird ja – gerade in diesen esoterischen „schamanischen“ Kreisen – gerne als das absolut „Gute“ dargestellt. Die Natur ist aber ganz sicher nur eines: GERECHT. Und das kann schon auch mal ziemlich weh tun. Also: „Verzeihen“ ist nichts Natür-liches, sondern ein menschengemachtes Konstrukt, und hinter menschengemachten Konstrukten stecken immer menschengemachte Interessen. Zumeist einseitige.
Spannend beim Thema „Verzeihen“ (also wenn es von anderen an uns heran getragen wird) finde ich auch immer, dass dies eine sehr einseitige Aufforderung – nämlich an die Opfer! – ist. DARIN liegt übrigens für meine Begriffe ein Teil der Gewalt, die mit dieser Aufforderung verbunden ist. Niemand stellt sich hin und fordert erst einmal von den Tätern gewisse Schritte, DAMIT ihnen evtl. einmal verziehen werden kann, sondern alle wollen gleich ans Ende des Prozesses kommen, nämlich zum Verzeihen.
Ich lese gerade ein Buch über die Würde des Menschen. Darin heißt es zum Thema Wiedergutmachung von Schuld u.a. [NATÜRLICH auf den Schuldigen bezogen!!]:
„Schuld kann abgetragen werden wie eine finanzielle Verschuldung:
(a) Schuld-Einsicht
(b) Gewissens-Scham, sublimiert zu Reue und persönlicher Veränderung
(c) Eingeständnis seiner Schuld gegenüber dem Opfer
(d) Bitte um Entschuldigung
(e) Angebot von Wiedergutmachung.“
Denen, die zum Verzeihen raten, möchte ich zusätzlich zum „Natur“-Vergleich auch noch sagen, dass wir bisher ja nichtmal von den Tätern um Verzeihung GEBETEN worden sind!
Mal ganz abgesehen davon, dass von den Tätern obige fünf Schritte nicht mal gefordert werden! Nein, es wird einfach abgekürzt und den Opfer auferlegt, „ins Blaue hinein“ zu verzeihen, häufig verbunden mit dem Heilsversprechen: „Dann geht es DIR besser“. Doch das Gegenteil ist der Fall, wie meine anderen klugen Zitate beweisen:
„Besonders schädlich ist es [vonseiten der Therapeuten, MM], eine „Versöhnung“ mit dem Täter anzustreben, außer vielleicht in einer sehr späten Phase der Therapie und wenn der Täter sich wirklich verändert hat (…). Diese Vorstellung [zu verzeihen, MM] triggert meist das Trauma, sie reduziert die Realschuld des Täters und dient damit letztlich dem Täterschutz.“ (Dr. med. Ingrid Olbricht)
Und ICH behaupte, dass das auch Sinn und Zweck der Aufforderung zu Verzeihen ist, auch bei den Mittäter/innen! Auch SIE haben Angst davor, für ihre Mittäterschaft zur Rechenschaft gezogen zu werden, wenn man die Schuld der Täter thematisiert und deshalb verbünden sie sich mit den Tätern – statt mit den Opfern – und fordern diese auf, auch weiterhin die Sache mit sich alleine auszumachen. Und das ist neuerliche Gewalt!
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Indem man Betroffene drängt oder empfiehlt, den Tätern zu verzeihen, katapultiert man sie erneut in die Opferrolle. Und das ist erneute Gewalt!
Mir kam eben ganz spontan – als ich die Parallele zu Religionen, esoterischen Bewegungen las, der Satz wieder in den Sinn, der während meiner Klosterzeit beinahe bei den Nonnen schon zu einer Parole wurde:
„Das oder jenes opfern wir auf!“
Genau darum geht es in Religionen! Wieder zum Opfer degradieren, wieder unter dem Deckmantel einer Religion klein gehalten werden, Gefühle – die „böse“ sind wie Wut, Zorn, Hass, Nicht – Verzeihen – Können – zu unterdrücken, den „Heiligenschein“ oder die „Reinheit“ darüber zu stülpen.
Da ist das kleine reine Kind – und dort ist die große Macht – sei es die Natur, der man eine überdimensionale Macht zuschreibt, sei es ein Gott – der über allem thront, sei es Allah, für die sich fanatisch Gläubige opfern und in die Luft sprengen… Immer geht es um ein Machtgefälle!!! Alles Ausschließliche ist mir mittlerweile suspekt. Religionen sind ausschließlich!
Was ich eigentlich sagen wollte… Ich spüre durch diese Diskussion genau diese Ambivalenz. Einerseits das Bedürfnis, mich von all diesem aufgepfropften Zwang zu befreien, und nur das zu tun, was für mich stimmig ist. Also in meinem Fall – nicht zu verzeihen, sondern es irgendwann neutral werden zu lassen, MICH zu befrieden – und unberührt davon
zu werden, was meine Täter tun und wie es ihnen geht.
Aber immer wenn ich solche Zeilen lese, die da lauten: Jemand hat wieder gesagt, man müsse doch den Mitwissern, Vertuschern, Tätern verzeihen – spüre ich dieses wohlerzogene, streng religiös erzogene Kind in mir und höre zugleich die Drohungen der Täter/Innen, die mir die Schuld für alles geben. Solche Sätze lösen in mir unweigerlich das Gefühl aus, wieder in der Gewalt von anderen zu sein, keine freie Entscheidungsmöglichkeiten zu haben, wieder meinen eigenen Gefühlen und meinem eigenen Empfinden nicht trauen zu dürfen, wieder bestimmt zu werden in Dingen, die ganz persönlich, intim und individuell sind.
Und ich spüre die Abwehr, mich solchen Unterwerfungen nicht mehr beugen zu wollen. Ich spüre die Wut, die Menschen in mir auslösen, wenn sie so etwas von Betroffenen verlangen. Ich spüre das Unverständnis, das diese Menschen Betroffenen gegenüber entgegenschleudern.
Und ich wünschte, sie würden endlich begreifen, und wenn schon nicht das – was ohnehin schon einem Wunder gleichen würde, dann zumindest respektieren, akzeptieren, dass dies eine ganz persönliche, intime Entscheidung jedes einzelnen Betroffenen ist und niemanden anderem etwas angeht.
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Allen Erkenntnissen zum Trotz gibt es immer noch Leute, die am liebsten den Mantel des Vergessens über Dinge breiten möchten, die sie nicht in ihrer Welt sehen wollen. Aber die moderne Psychotherapie und auch die Betroffenen selbst zeigen, dass es so nicht funktioniert, ohne sich selbst immer wieder zum Opfer und „Schuldigen“ zu machen und sich selbst zu schädigen.
Die gängige Praxis, die auch Erfolge bringt, ist nun einmal, Methoden zu lernen, um an das Vergangene erst einmal ran zu kommen, es anzuschauen, an den rechten Platz (Schuld ausschließlich beim Täter) zu rücken und dann Stück für Stück aufzuarbeiten. Das dauert Vielen zu lange, soviel Geduld haben sie nicht und verunsichern dann lieber die ohnehin schon geschädigten Menschen.
Wir lassen uns nicht beirren, wir gehen den Weg der Gesundung, wir müssen niemandem vergeben, der uns Gewalt angetan hat. Irgendwann wird aber alles an dem Platz sein, der ihm gebührt, und dann können wir auch unseren Frieden machen mit denen, die uns das angetan haben und nicht, um sie zu rehabilitieren, sondern um selbst wieder gut leben zu können.
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Eines möchte ich zum Thema „Verzeihen“ noch hinzufügen:
Generell bin ich nicht nachtragend. Und ich denke, dass viele Betroffene nicht nachtragend sind, heißt – mit dem Thema „Verzeihen“ in der Regel kein Problem haben.
Tätern von sexueller Gewalt an Kindern zu verzeihen, ist jedoch ein anderes Kapitel. Hier wurde gezielt und ganz bewusst einem wehrlosen Kind massiv geschadet Hier wurde gezielt und ganz bewusst wehrlosen Kindern/Jugendlichen Gewalt angetan. Hier wurde gezielt und ganz bewusst Kindern/Jugendlichen auch noch die Schuld dafür gegeben, dass man ihnen so viel Schmerz zufügte. Hier wurde gezielt und ganz bewusst alles vertuscht, verborgen gehalten, in dem man den Kindern/Jugendlichen auch noch mit Mord oder anderen schrecklichen Dingen drohte, würden sie es wagen, auch nur ein Wort darüber verlauten zu lassen. Und das meist über Jahre hinweg.
Ich für meinen Teil habe inzwischen die Auffassung, dass es für uns Betroffene schon ein sehr weiter Schritt ist, wenn wir es geschafft haben, den Tätern keine Macht mehr über unsere Gefühle, über unser weiteres Leben einzuräumen, und damit unser Leben selbst in die Hand zu nehmen. Dass wir aus der Opferrolle und aus den Ohnmachtsgefühlen, die damit einhergehen, herausgefunden und uns davon befreit haben.
Wo kein Opfer, hat auch der/die TäterIn keine Macht mehr über uns! Das klingt jetzt vielleicht verwirrend, ist aber dennoch logisch. Solange wir in der Opferrolle verharren, haben unsere Täter immer noch Macht über uns, können unser Gefühlsleben, unser Befinden bestimmen.
Mein Ziel ist nun, nachdem ich von allen abgespaltenen Traumen weiß, gegenüber den TäterInnen ein neutrales „Gefühl“ zu erlangen. Dahin möchte ich für mich ganz persönlich wieder kommen. Unabhängig von meinen TäterInnen zu werden, indem sie keinen Platz mehr in meinem Leben bekommen. Keinen Gedanken, keine Gefühle, keine Macht über mein Befinden.
Wir Betroffenen haben ausreichend mit den Folgeschäden zu tun, da habe ich einfach keine Lust, mich auch noch mit den TäterInnen und deren Befinden, deren Beweggründe und warum sie zum Täter geworden sind zu beschäftigen.
Man kann niemanden „ent – Schuld – igen“, der nicht einmal wahrnimmt, dass er Schuld auf sich geladen hat.
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Wie würden Nichtbetroffene reagieren, würde man von ihnen verlangen, sie müssten mit all ihren Expartnern, Exfreunden etc., mit denen sie im Streit auseinander gegangen sind, Weihnachten feiern, oder sie wieder in ihren Bekannten- und Freundeskreis aufnehmen, ihnen all das verzeihen, was sie ihnen an Wunden und seelischen Verletzungen zugefügt haben? Da würde der Part mit der Verzeihungsschiene sofort eine andere Richtung einschlagen. Aber von uns, denen man als wehrlose Kinder rohe Gewalt im vollen Bewusstsein und mit voller Absicht jahrelang zugefügt hat, verlangt man, man möge diesen Verbrechern verzeihen???
Vielen Dank, ihr lieben Mutmacherinnen, für eure Statements. Ich hoffe sehr, dass sich nun einige Augen und Ohren mehr öffnen werden!

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8 Gedanken zu „“

  1. Ich bin immer froh, wenn ich mal einen kritischen Beitrag zum Thema „Vergebung“ lesen darf. Selten genug kommt das ja vor!

    Was ist eigentlich gemeint mit dem Konzept der „Vergebung“? Sollen wir so tun, als wäre nichts geschehen? Wem nützt diese Realitätsverblendung? Sollen wir uns zwingen, nicht mehr wütend zu sein? Ist es wirklich gesund und heilbringend, Gefühle zu manipuliere? Ich habe gelesen: „Verzeihen ist der Verzicht auf Wiedergutmachung“. Und wozu soll das gut sein? Für den Täter ist es besser, wenn er Wiedergutmachung leistet. Dann setzt er sich auch intensiv mit seiner Tat auseinander. Auch für das Opfer kann die Bemühung des Täters, Wiedergutmachung zu leisten, wohltuend sein.
    Mit der reinen Vergebung hat die Tat für den Täter keinerlei negative Konsequenzen. Dann ist das Risiko für eine Wiederholungstat ziemlich hoch.
    Das habe ich am Beispiel meiner Eltern erfahren. Sie waren leider Kindesmisshandler. Ich habe ihnen immer wieder vergeben. Und sie wurden immer frecher und unverschämter.

    Natürlich befürworte ich nicht die üble Spirale aus Rache und Gegenrache. Auch ich lasse mal eine Sache auf sich beruhen, wenn ich keine Möglichkeit sehe, Wiedergutmachung zu erlangen. Aber Vergebung als einzig möglichen Weg zu propagieren, das scheint mir doch ein sehr fragwürdiges Konzept zu sein.

    Du hast das Beispiel mit der Natur beschrieben. Wir haben Konsequenzen zu tragen, was wir der Natur oder irgend einem Lebewesen antun.
    „Keine Aktion ohne Reaktion“ lautet ein Naturgesetz.
    Das Konzept der Vergebung sieht vor, dass wir die Reaktion unterdrücken.
    Ich glaube nicht, dass so etwas gesund sein kann.

    Wenn man das Konzept der Vergebung richtig konsequent anwenden möchte, dann müsste man auch gute Taten vergeben. Ich dürfte mich also nicht mehr revanchieren, wenn mir jemand etwas Gutes getan hat. Dürfte keine Dankbarkeit empfinden. Nichts zurückgeben. Die gute Tat bliebe ohne jegliche Konsequenzen, genau wie bei der Vergebung böser Taten.
    Ich weiss, dass mein Beispiel hier ein bisschen krass klingt, aber es zeigt, wie unnatürlich und konstruiert das Konzept der Vergebung ist.

    Beste Grüsse und danke für Ihren Beitrag!

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  2. Durch Zufall bin ich auf deinen Artikel gestoßen, der mich sehr anspricht. Obwohl ich nicht das gleiche durchgemacht habe wie du, bin ich seit nunmehr 2 Jahren, seit ich aus der Missbrauchssituation heraus bin, in einem Dilemma. Immer wieder geht es mir so schlecht, dass ich sterben will. Soll ich verzeihen, ist es nicht meine eigene Schuld und ist es nicht „meine Geschichte“, die ich durch diese Erfahrung schreibe, ist es falsch, den Täter zur Rechenschaft zu ziehen (das tue ich derzeit)? Die Flut von Ratschlägen und Meinungen ist so riesig und ich hadere oft mit mir, gerade weil ich das Geschehene nicht so stehen lassen kann. Interessanterweise geht es mir am schlechtesten, wenn ich versuche, das Geschehene als positiv zu sehen, verzeihen, das gute für mich zu sehen etc. Ich habe einmal gelesen, dass man den Täter sehr wohl zur Rechenschaft ziehen muss, denn nur so kann er wissen, dass er etwas Schlechtes getan hat. Somit helfe es auch dem Täter.
    Letztlich muss wohl tatsächlich jeder selbst entscheiden, wie er es handhaben will. Ratschläge sind gut, die Meinung anderer zu übernehmen nicht. Meine Geschichte ist jedenfalls erst dann abgeschlossen, wenn ich meinen eigenen Part selbstbestimmt hinzugefügt habe, wenn ich aktiv gehandelt habe. Denn bisher war ich passiv und wurde in dieser Sache nur be- bzw. misshandelt.

    Antworten
    • Vielen Dank für deinen Beitrag, der wieder einmal zeigt, wie „zerrissen“ wir alle sind. Natürlich muss jede(r) seinen/ihren eigenen Weg finden, um mit dem Geschehenen 8ansatzweise) klarzukommen, aber ich bin wie du der Meinung, dass man die Täter zur Rechenschaft ziehen muss, allerdings nicht, um ihnen zu helfen, das läge mir völlig fern. Ich bin auch sehr weit weg vom Verzeihen, ich bin ja nichtmal um Verzeihung gebeten worden. Was ich aber seit dem Tod der letzten Mittäterin mit mir selbst ausgemacht habe, ist: „Frieden schließen statt Verzeihen!“ Ich versuche schon lange, diesen Gedanken in Worte zu fassen und für mein Umfeld verständlich zu machen, aber das ist nicht so einfach, weil die meisten Menschen „Frieden schließen“ mit „Verzeihen“ gleichsetzen. Dem ist aber nicht so, jedenfalls nicht in meiner Welt. Ich kann Frieden schließen mit meiner Gefühlswelt und meinen (schlimmen) Erlebnissen, ich kann auch Frieden schließen mit allen, die daran beteiligt waren, da alle tot sind und ich sie nicht mehr zur Rechenschaft ziehen kann. Ich kann ebenso Frieden mit mir selbst schließen, denn ich weiß nun endlich, dass es nicht meine Schuld war und ich mir selbst auch nicht verzeihen muss. Aber den Tätern und Mittätern verzeihen? Nein, das kann und will ich nicht.
      Höre auf dein Bauchgefühl, es wird dich richtig beraten!

      Antworten
  3. „Die Schäden von emotionaler Misshandlung können nicht an sichtbaren Narben gemessen werden, aber jedes Opfer verliert einen Prozentsatz seiner Leistungsfähigkeit. Und diese Leistungsfähigkeit bleibt so lange verloren, wie das Opfer in dem Kreislauf von „Verstehen“ und „Vergebung“ feststeckt. Der Misshandler hat kein „Recht“ auf Vergebung – solche Wohltaten können nur verdient werden. Und obwohl der Schaden mit Worten angerichtet wurde, kann echte Vergebung nur mit Taten verdient werden.“

    Andrew Vachss
    http://www.vachss.de/mission/dispatches/disp_9408_a.html

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  4. Auch die Natur lässt Vergehen nicht auf sich beruhen!
    Nur die Wahrheit, das wirklich Geschehene besteht!
    Nur das kann gesehen werden, egal wieviele Lügen sie vertuschen wollen- sie zudecken wollen – sie kommt ans Licht! !!
    Das dürfen sich die TÄTER gerne zu Gemüte führen.-und die „Mittäter“- die Wegseher auch! !!
    Wut, Zorn sind Blitz und Donner, um das brodelnde Unrecht zu beseitigen- die Luft zu klären! Daran dürfen wir alle denken!
    Ist leichter, gleich zu seiner Tat zu stehen!
    Die Wahrheit kommt ans Licht!
    Nur sie ist ja geschehen! – alles andere versucht sie ja nur zu verdecken. Also……….
    Wut, Zorn sind die ganz natürlichen Aufklärer- Aufklaren – Blitz und Donner eben! !!

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    • Herzlichen Dank! Sie sprechen mir aus der Seele. Ich habe erst im reifen Alter eine Therapie gemacht, um mit den Folgen des jahrelangen Missbrauchs durch meinen Vater und das Schweigen meiner Mutter fertig zu werden. Mit Entsetzen musste ich feststellen wie weitreichende diese Folgen sind. Wie Schimmel breiten sie sich über Generationen hinweg aus. Bis dahin dachte ich, ich komm schon klar, ich hab verziehen und vergessen, aber nein, Wut, Hass, Scham, waren immer in meinem Bauch, meine Beziehungen waren schwierig, die Erziehung meiner Kinder war schwierig, mein ganzes Leben war ein Kampf ums Überleben. Ich dachte, es läge daran, weil ich zu doof war, so jedenfalls wurde es mir seitens der Familie vermittelt. Mit enormen Kraftaufwand und Disziplin habe ich alles bewältigt und führte trotz allem ein gutes und zufriedenes Leben. Plötzlich aber fingen die Gefühle in meinem Bauch zu brodeln und zu schäumen an. Um es kurz zu machen: In der Therapie lernte ich dass ich ein Recht auf meine Gefühle habe, sie sind legitim, dass das richtige Wort Missbrauch ist, dass ich nicht schuld bin, dass es wichtig ist, die Wut dort rauszulassen wo sie hingehört, dass nicht ich der Nestbeschmutzer bin und wichtig, dass ich nicht verzeihen „muss“. Es muss mich als Opfer auch nicht interessieren, warum man mir das angetan hat. Ich kann auch nicht bei meinen Kindern so weiter machen und mich damit entschuldigen, dass es mir auch widerfahren ist oder mein Leben so schwierig war. Meiner Meinung nach ist jeder selbst für sein Tun verantwortlich. Es wird mir auch manchmal gesagt, sie konnten eben nicht anders. Ich finde, dass es immer verschiedene Wege gibt, dass sie sie nicht gefunden haben, ist nicht mein Problem.
      Heute bin ich über 60. Mein Vater ist verstorben und ich muss ihm noch sein Päckchen ins Grab stecken, als Ritual, mit meiner Mutter hatte ich ein klärendes Gespräch, das mir die Wut auf sie genommen hat. Das ermöglicht mir, ihr heute zu helfen. Mit der Schuld muss sie selbst klar kommen. Ich trage der alten Frau nichts mehr nach, aber der jungen Frau von damals kann ich nicht verzeihen.
      Es ist so, wie Sie das beschreiben, erst wenn alles geklärt ist und an seinem Platz, dann kann man zur Ruhe kommen und es neutral betrachten.
      Herzliche Grüße
      Bergia

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