Brief an Bundesgesundheitsminister Bahr zum Thema „Vorsorgeuntersuchung an Schulen“

Sehr geehrter Herr Bundesgesundheitsminister,

mit Freude haben wir im Deutschen Ärzteblatt von Ihrem Vorhaben, Ärzte zu Vorsorgeuntersuchungen von Kindern in die Schulen zu schicken, gelesen. Die Idee einer systematischen Ausweitung der Vorsorgeuntersuchungen von Kindern in Deutschland ist unbedingt begrüßenswert! Wir möchten Sie bitten, dieses Vorhaben ernsthaft zu verfolgen, und Ihnen dazu noch folgende Anregung mitgeben:

Im Zuge dieser staatlich verankerten Vorsorgeuntersuchungen auch für Schulkinder sehen wir eine sehr gute Möglichkeit, das Vorkommen von sexuellem Kindesmissbrauch systematischer als bisher zu erfassen und den betroffenen Kindern (Ausstiegs)Hilfe und Unterstützung zukommen zu lassen.

Voraussetzung dafür ist natürlich, dass sexueller Kindesmissbrauch als die Entwicklung des Kindes schädigender Faktor in den Untersuchungskatalog für diese Vorsorgeuntersuchungen einfließt. Dies sollte im Jahr drei nach Initiierung der Stelle eines Unabhängigen Missbrauchsbeauftragten und eines so genannten Runden Tisches zum Thema nicht mehr fraglich sein.

Voraussetzung ist außerdem, dass die untersuchenden (Kinder)ÄrztInnen in der Lage sind, mögliche Symptome, die auf evtl. sexuellen Kindesmissbrauch schließen lassen, identifizieren zu können und dass ihnen dann entsprechende Strukturen/Netzwerke zur Verfügung stehen, um entsprechende Schutz- und Unterstützungsmaßnahmen für die betroffenen Kinder und Jugendlichen einzuleiten.

In Ihrer Idee steckt also eine sehr große Chance, für den Schutz von Kindern, die von sexuellem Missbrauch betroffen sind (insbesondere in ihrer Familie), einen wesentlichen Schritt nach vorne zu tun! Die entsprechenden Vorbedingungen vorausgesetzt.

Diese Chance sollten Sie im Interesse der Kinder und Jugendlichen nicht vergeben. Sie sollten Sie aber auch im Interesse der SteuerzahlerInnen nicht vergeben (und hier läge unserer Meinung nach auch ein Argument, evtl. Zusatzkosten für ein solches Vorsorgeprogramm zu rechtfertigen):

Sexueller Kindesmissbrauch hat – das ist zwischenzeitlich vielfach belegt – weitreichende gesundheitliche und sozioökonomische Folgen, die enorme volkswirtschaftliche Kosten (u.a. im Gesundheitssystem) verursachen.

U.a. Felitti et al. haben in der so genannten ACE-Studie (2002) einen klaren Ursache-Wirkung-Zusammenhang zwischen frühen (kumulierten) Gewalterfahrungen und Depressionen, Adipositas, Rauchen, Suchterkrankungen allgemein, u. m. festgestellt. Ihre Adverse Childhood Experiences (ACE) Studie zeigte, dass belastende Kindheitserfahrungen häufig sind, obwohl sie im Allgemeinen verborgen und unerkannt bleiben; und dass sie auch fünfzig Jahre später tiefgreifende Folgen haben, die psychosozialen Erfahrungen sich aber mittlerweile in eine körperliche Erkrankung umgewandelt haben. Diese belastenden Kindheitserlebnisse sind laut Felitti et al. eine der wesentlichen Determinanten der Gesundheit und vor allem des Wohlbefindens der Nation. Die Ergebnisse belegen demnach, dass vieles bei Erwachsenen Unerkanntes das Ergebnis von unerkannten Ereignissen der Kindheit ist. „Die ACE-Studie ist eine Herausforderung, die gegen die derzeitigen oberflächlichen Konzeptionen von Depression und Suchterkrankung gerichtet ist. Sie zeigt, dass diese Störungen in einem klaren und eindeutigen Dosis-Wirkungsverhältnis zu früheren Lebenserfahrungen stehen“, so die Autoren.

Die sozioökonomischen Folgekosten von Gewalt betreffen u. a. den sozialen Bereich (z. B. Kinder- und Jugendhilfe, Unterstützungseinrichtungen für Gewaltbetroffene), die Justiz (z. B. Strafverfolgung), den gesamten Bereich der Erwerbsarbeit (z. B. Arbeitsunfähigkeit, Frühberentung sowie schwerpunktmäßig das System der Gesundheitsversorgung. Im medizinischen Sektor (z. B. Notfallambulanzen, allgemeinmedizinische und fachärztliche Praxen, Krankenhäuser) fallen vorwiegend Kosten für die medizinische Erstversorgung bei akuten Verletzungen, für die Behandlung psychosomatischer Beschwerden, sexuell übertragbarer Krankheiten sowie für die psychologische Beratung und therapeutische Behandlung (Psychotherapie/Psychiatrie) an. Darüber hinaus sind Ausgaben für Medikamente, wiederholte ambulante und stationäre Rehabilitationsmaßnahmen sowie für langfristige Versorgungserfordernisse (z. B. aufgrund von Schwangerschaftskomplikationen und Geburtsschaden) zu berücksichtigen (vgl. zur Bestimmung und Systematisierung der Kosten von Gewalt im Gesundheitswesen auch das Manual der WHO). (Quelle: Gesundheitsberichterstattung des Bundes, Heft 42, http://edoc.rki.de/documents/rki_fv/ren4T3cctjHcA/PDF/26Herxag1MT4M_27.pdf)

Systematische Vorsorgeuntersuchungen für Kinder/Jugendliche sind wichtig als Schutzmaßnahme für Kinder. Sie sind aber weit mehr als das, denn sie helfen auch volkswirtschaftliche Kosten in Milliardenhöhe zu vermeiden und sind im ureigenen Interesse der Staatsgemeinschaft. Entscheidend ist, dass die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, JEGLICHE Form von Gewalt an Kindern und Jugendlichen und ihre Folgesymptome frühzeitig zu identifizieren und den betroffenen Kindern und Jugendlichen dann auch schnell qualifizierte Unterstützung zukommen zu lassen.

Eine wichtige Chance, die es zu nutzen gilt.

Freundliche Grüße

Initiative Mutmachen

Schreibe einen Kommentar