Ein wunderbarer und so zutreffender Text von Miss Marple, der meine volle Zustimmung findet. Bitte unbedingt lesen und teilen, weitergeben – was auch immer:
„Den unten verlinkten Text habe ich vor ziemlich genau fünf Jahren (!) für die Betroffenen-Selbsthilfeorganisation „netzwerkB“ verfasst. Er benennt zentrale Fragen und Erfahrungen von Betroffenen in einer „aufgeklärten“ Gesellschaft. Er macht vielleicht auch die Komplexität der Erfahrungen und die Nachhaltigkeit der Bürde für die Betroffenen deutlich. Obwohl vor fünf Jahren geschrieben, ist er aktuell wie eh und je.
Zwar meinen viele, nun hätte sich doch schon so vieles für uns Betroffene geändert und schließlich gibt es jetzt doch auch den Unabhängigen Missbrauchsbeauftragten und überhaupt… Und die eine oder der andere mag wahrscheinlich auch gar nichts mehr über das Thema hören – mit all den Flüchtlingen und Kriegen und sonstigen Verrücktheiten auf dem Globus. Tatsächlich aber ist vor allem eines passiert: Das Thema ist wieder weit in den Hintergrund gerückt, ins kollektive Unterbewusste, wo es seit Jahrzehnten vor sich hinschimmelt. Die Aufmerksamkeit der Gesellschaft ist von den Skandalen des Jahres 2010 (Canisius-Kolleg, Odenwaldschule, Katholische Kirche…) wieder abgerückt. Vermehrt wird auch wieder die ZeugInnenschaft von Betroffenen infrage gestellt („Missbrauch mit dem Missbrauch“).
Wer weiß schon, dass in den 2011 so öffentlichkeitswirksam angekündigten Hilfsfonds für Betroffene im familiären Umfeld noch immer nicht alle Bundesländer ihre zugesagten Mittel eingezahlt haben? Wer weiß schon, dass aus diesem Topf bis Ende 2014 gerade einmal ein Betrag von 663.436,81 Euro an Betroffene ausgezahlt wurde, während im selben Zeitraum rund 1,7 Millionen Euro an Verwaltungskosten entnommen wurden??!
Wer weiß schon, dass die Antragstellung auf Leistungen aus dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) für Betroffene einen Höllenritt bedeutet und oftmals mit einer Retraumatisierung ebenso wie mit einer Ablehnung einhergeht? Die im Abschlussbericht der ersten Unabhängigen Missbrauchsbeauftragten Dr. Christine Bergmann geforderte dringende Überarbeitung des OEG lässt bis heute auf sich warten.
Wer weiß schon, dass gerade Betroffene von sexualisierter Gewalt in der Kindheit nicht gerade zu den „beliebtesten“ Patienten von PsychotherapeutInnen zählen und dass selbst viele PsychotherapetInnen mit der Komplexität der Thematik und ihren Folgen in Wahrheit überfordert sind?
Wer weiß schon, dass die 2015 durch den Bundestag öffentlichkeitswirksam beschlossene sog. „Aufarbeitungskommission“ KEINE (!) gesetzliche Grundlage hat (d.h., sie ist nicht einklagbar) und auch ihre Finanzierung bis heute nicht abschließend geklärt ist?
Und, und, und…
Wir Betroffenen, die damals (und bis heute) unter großer persönlicher Kraftanstrengung auf die Menschenrechtsverletzungen und massiven Straftaten gegen Kinder in Deutschland aufmerksam gemacht haben, stecken noch immer in unseren vergewaltigten Leben. Und das wird sich auch nie ändern. Die gesellschaftliche (und persönliche) Ignoranz macht es aber schwerer. „Wie soll ich etwas integrieren, das eine ganze Gesellschaft abspaltet?“, fragte einmal eine Betroffene. Und wie, möchte ich ergänzen, sollen wir jemals Frieden mit unserer Geschichte finden, wenn diejenigen, die durch ihr jahrzehntelanges Schweigen, durch Wegsehen, durch Bagatellisierung der Schäden („sexuelle Befreiung“ usw.), durch Stigmatisierung der Betroffenen und massiver Entschuldigung der Täter („Triebe“), usw., sich bis heute weigern, zu ihrer (Mit)Verantwortung für die STRAFTATEN und gegenüber den Betroffenen zu stehen? Wer ist für die Integration des Unfassbaren verantwortlich?? Tatsächlich die Betroffenen???
Wieviel ist ein Menschenleben wert?
Auf ein besseres Neues Jahr!“
Gestern (26.01.2016) wurden die sieben Mitglieder der sog. „Unabhängigen Aufarbeitungskommission Kindesmissbrauch“ bekannt gegeben.
https://beauftragter-missbrauch.de/presse-service/pressemitteilungen/detail/news/aufarbeitungskommission-kindesmissbrauch-startet-noch-im-januar/
http://www.deutschlandradiokultur.de/aufarbeitung-von-sexuellen-uebergriffen-missbrauch-in-der.1008.de.html?dram:article_id=343640
In die Aufarbeitungskommission wurde u.a. Prof. Dr. Jens Brachmann, Lehrstuhlinhaber für Allgemeine Pädagogik und Historische Wissenschaftsforschung an der Universität Rostock, berufen. Von ihm gibt es dazu ein bemerkenswertes Statement:
„Pädosexuelle Gewalt ist nicht nur ein Grundrisiko von Kindheit, sondern – das macht die kulturgeschichtliche Perspektive deutlich – ein manifestes Muster der Regulierung von Generationenbeziehungen: Sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen ist ein prekäres Kulturmoment, das in seinem Ausmaß und in seiner verstörenden Dimension gesellschaftlich weithin unterschätzt wird. Die Klärung der Verantwortung für eine konkrete pädosexuelle Straftat muss daher stets zugleich auch überindividuell gedacht werden: Sexueller Missbrauch ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen. Sexueller Missbrauch ist eine kulturelle Tragödie! Ziel der Arbeit der Kommission wird es somit vor allem auch sein müssen, eine breite gesellschaftliche Debatte anzuregen, um das tatsächliche Ausmaß sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche aufzuzeigen und als Unrecht anzuerkennen.“
(Quelle: http://www.uni-rostock.de/detailseite/news-artikel/rostocker-bildungshistoriker-in-nationale-aufarbei/)