Der sexuelle Missbrauch in Deutschland sei drastisch zurückgegangen, so eine neue Studie des Bildungsministeriums. Doch nicht nur Christine Bergmann, die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, zweifelt daran. Sie ist allerdings nur noch bis Ende Oktober im Amt. Wer ihr folgen wird, ist unklar. Das macht die Betroffenen fassungslos, weil so vieles noch im Argen liegt.
Über 20.000 Menschen haben sich in den vergangenen 18 Monaten an Christine Bergmann gewandt. Hilferufe nach traumatischen Lebenserfahrungen. Täglich meldeten sich 40 bis 60 Menschen in der Geschäftsstelle, sagt Bergmann. Bei vielen liegt der Missbrauch zum Teil lange zurück und sie sprächen dann zum ersten Mal darüber. Man dürfe eben mit der Arbeit auch nicht aufhören.
Keine Entwarnung
Umso empörter ist sie über die aktuelle Studie des Kriminologen Christian Pfeiffer, wonach sexueller Missbrauch in den letzten 20 Jahren drastisch zurückgegangen sei: „Von drastisch kann keine Rede sein. Auch die Pfeifferschen Zahlen sagen, dass es immer noch acht bis neun Prozent Kinder gibt, die sexuellen Missbrauch erfahren haben. Das sind in jeder Klasse ungefähr zwei Kinder. Wenn jemand erklärt, dass damit das Problem gelöst sein, das kann ich nicht nachvollziehen.“
Entwarnung zu geben, sei schlicht das falsche Signal. Zumal die Aufarbeitung des Missbrauchs-Skandal in religiösen und weltlichen Institutionen erst am Anfang stünde. An der Odenwaldschule sei man noch lange nicht am Ende. Nach wie vor sei für diese Einrichtung das Thema Aufarbeitung nicht abgeschlossen, so Bergmann. Für die Betroffenen an der Odenwaldschule habe die Aufarbeitung noch gar nicht begonnen, sagt Adrian Koerfer, ehemaliger Odenwaldschüler vom Opferschutzverein Glasbrechen e.V. Er empfindet Zorn, Wut und Trauer darüber, dass auch eineinhalb Jahre nach Bekanntwerden der massiven Verbrechen nichts passiert ist für die Opfer. Kein Mitgefühl, keine Schuldanerkennung, kein Schmerzensgeld.
Adrian Koerfer kämpft zusammen mit dem Opferschutzverein „Glasbrechen“ mit Protestaktionen gegen das Vergessen. Immer neue Opfer melden sich hier. Offiziell sind es 132, doch inzwischen gehen Opferverbände schon von 500 bis 1.000 Betroffenen aus. 15 Lehrer sind bisher als Täter identifiziert. An Zahlungen an die Betroffenen denkt die Schule, jedenfalls vorerst, nicht. Sie habe kein Geld. Und an den riesigen Grundbesitz will man nicht ran, sagt Lisa Steiner vom Vorstand der Odenwaldschule: „Stellen Sie sich beispielsweise vor, wir verkaufen ein Gebäude, welche Außenwirkung das hat für die Eltern, die ihre Kindern jetzt an der Schule haben. Da muss man einfach ganz vorsichtig, das was ist, erhalten und auch nicht abschrecken, jetzt, wo sich die Schule gerade so toll erneuert.“
Für Salman Ansari ist solch eine Haltung unfassbar. Rund 30 Jahre war er Lehrer an der Odenwaldschule und der einzige, der sich auf die Seite der Opfer stellt: „Wie handeln wir gegenüber denjenigen, die an der Odenwaldschule kaputtgegangen sind? Das sind Leben, die hier im Namen der Reformpädagogik zerstört worden sind.“ Für ihn ist eine Schuldanerkennung auch in finanzieller Form ganz selbstverständlich.
Während die Betroffenen der Odenwaldschule auf Entschädigung bislang vergeblich warten, will das Benediktinerkloster Ettal 70 Opfer von körperlicher und sexueller Gewalt mit insgesamt 700.000 Euro entschädigen. Ein großer Akt der Gnade? Nein, sagt Thomas Pfister, der ehemalige Sonderermittler in Ettal: „Wenn man dort seine Kindheit zerprügelt bekommen hat oder sexuell missbraucht wurde, dann sind natürlich diese Summen von 5.000 bis 20.000 Euro ein Nichts. Es bluteten dort Kinder, im wahrsten Sinne des Wortes und deswegen muss man dann auch finanziell bluten.“
Als Hohn empfänden es viele ehemalige Schüler, dass der Papst sich nach der Aufdeckung des Skandals niemals mit den Opfern von Ettal, wohl aber mit der Klosterleitung getroffen habe.
Umgang der Kirche mit den Opfern
Kerstin war 14, als sie ein evangelischer Pfarrer missbrauchte. Zweieinhalb Jahre des Leides muss sie heute aufarbeiten. Erst Jahre später als Erwachsene konnte sie darüber sprechen und wandte sich an die zuständige Kirche. Gegen den Pfarrer wurden zwei interne Disziplinarverfahren eingeleitet. Im ersten, im Jahre 2004, bekam er einen Verweis, sollte sich bei Kerstin schriftlich entschuldigen. Sie erfuhr nichts von dem Ausgang des Verfahrens. Deshalb hakte sie bei der Kirche nach und machte ihren Fall publik. Dort wurden nun erstmals Verfahrensfehler zugegeben. Zum zweiten Mal wurde intern gegen den Pfarrer ermittelt. Doch auch dieses Verfahren wurde eingestellt, mit der Begründung: „dass niemand zweimal für die gleiche Tat verurteilt werden darf.“
Durch das anstrengende Verfahren ist Kerstin nun seit eineinhalb Jahren arbeitsunfähig und musste stationär behandelt werden. Dafür bekam sie 10.0000 Euro von der Kirche. Der Pfarrer wird zukünftig in der Erwachsenenbildung tätig sein. Für Kerstin ein Schlag ins Gesicht: „dass der Pfarrer weiter Pfarrer ist, weil man nicht disziplinarrechtlich gegen ihn vorgehen kann.“ Und er sollte auch noch mit einem Gottesdienst verabschiedet werden. Doch auf Nachfragen der Presse will die evangelische Kirche nun darauf verzichten.
Der Druck muss weitergehen
Unverzichtbar für die Aufarbeitung sind offensichtlich staatliche Clearingstellen, an die sich die Betroffenen wenden können. Aber was macht der Staat? Ende Oktober 2011 wird Frau Bergmann ihr Amt abgeben. Das ist seit langem bekannt. Ein Nachfolger steht nicht fest. Droht ihr gesamtes Engagement nun im Sande zu verlaufen? Sie hofft nicht, der Druck, sagt Bergmann, müsse aufrecht erhalten bleiben, es wäre eine zu große Enttäuschung für die Betroffenen und das, gibt sie tun, würde auf ihrer Seele lasten. Und viele Menschen müssten befürchten, mit ihrem Trauma alleingelassen zu sein.
Quelle: ML – mona lisa, ZDF, Sendung vom 22.10.2011