Aufklärende Worte des Psychotherapeuten Klaus Schlagmann zur Psychoanalyse – Teil 2

Als Versicherte die Krankenkassen anzuschreiben, das halte ich für eine sehr gute Idee! Denn die Versicherten sind letztlich die GeldgeberInnen.

Kurz meine Erfahrungen: Vor ca. 5 Jahren hatte ich ca. 100 Krankenversicherungen per Post angeschrieben und auf Kernberg aufmerksam gemacht. (Meinen Aufruf hatte damals Alice Miller auf ihrer Webseite aufgenommen.) Es kamen drei eher verständnislose Reaktionen, bis auf den Vorsitzenden eines Kassenverbandes, der mir anbot, in einer von ihm mit betreuten Zeitschrift („psychoneuro“, 9/07) einen Artikel zu schreiben. „Sexueller Missbrauch: Opferbeschuldigung als Psychotherapiestrategie?“

Es gab so gut wie keine Resonanz aus der Fachwelt.

Deshalb:

Warum nicht eine Initiative starten – vielleicht in einer eigenen Rubrik (denn hier, in dieser Rubrik, geht es ja ursprünglich um die Aussage von Herrn Fegert und seine völlig pauschale Infragestellung der Glaubwürdigkeit von Opfern sexualisierter Gewalt): Ideen zum Vorstoß gegenüber Krankenkassen

Ja, gute Idee für das Anliegen an die Krankenkassen zu kämpfen, Therapie längerfristiger zu bezahlen. Wie gesagt: Vielleicht am besten die Diskussion in eigener Rubrik fortführen.

Einspruch würde ich erheben gegen das Argument, dass Kernberg immerhin schon 83 ist. Sigmund Freud, der den ganzen Unsinn vor über 100 Jahren in die Welt gesetzt hat, ist schon 72 Jahre tot. Kernberg setzt Freuds Tradition fort. Und auf meiner Webseite findet sich eine Fülle von Äußerungen zeitgenössischer, junger „Wissenschaftler“, die Kernbergs Thesen verteidigen, die also auch nach seine Tradition fortsetzen werden – wenn man/frau sie nicht irgendwann bremst.

Die Fülle an Verständnislosigkeit, die ich in meinen jahrelangen Fach-Diskussionen erlebt habe, macht mich sehr skeptisch, dass das Thema Kernberg allein biologisch zu lösen wäre. Aber ich bin Kernberg durchaus dankbar, weil er auf einem 10-seitigen Artikel den krassen Widerspruch zwischen brutaler Realität des Traumas und verständnisloser Unterstellung von Trieben gegenüber den Opfern deutlich macht.

Die Opferbeschuldigung hat sehr, sehr lange Tradition. Sigmund Freud ist sicherlich nur ein Meilenstein auf diesem langen Weg menschlicher Verwirrung. Herr Fegert repräsentiert eine weitere Facette davon.

Ein Beispiel von Freuds „Therapie“ aus dem Jahr 1900 (also vor 111 Jahren!), das mich stark an Kernberg erinnert, und in dem sich die typischen Merkmale im Umgang mit Opfern sexualisierter Gewalt spiegeln – bis hin zum Unterstellen von Lügen (es wurde als „Bruchstück einer Hysterieanalyse“ im Jahr 1905 abgedruckt; im Jahr 2005 wurde in einer amerikanischen Fachzeitschrift – quasi zum 100. Geburtstag dieser Studie – zwar auch ein wenig milde Kritik an der Studie geübt, aber im Wesentlichen wurden ihr Wert und ihre Bedeutung von mehreren Experten erneut betont):

Freud behandelt damals die 18-jährige Ida Bauer. Ihr Vater hatte sie zu Freud in die Behandlung geschickt. Ida hatte ganz real mehrere Situationen von Gewalt und Missachtung erlebt: Als 13-Jährige wird sie von dem 27-jährigen Herrn Z., einem Freund ihres Vaters, erotisch bedrängt (Freud, 1905/1995, 30 f): Z. presst Ida in seinem ansonsten menschenleeren Büro an sich und küsst sie – gegen ihren Willen – auf den Mund. Freud vermutet, dass sie dabei u.a. „das Andrängen des erigierten Gliedes gegen ihren Leib“ gespürt habe. Dass sie sich daraufhin losreißt und wegläuft, ist für Freud ein Zeichen, dass sie bereits „ganz und voll hysterisch“ sei! „Anstatt der Genitalsensation [= sexuellen Erregung; K.S.], die bei einem gesunden Mädchen unter diesen Umständen gewiss nicht gefehlt hätte, stellt sich bei ihr … der Ekel [ein]“!

Die 13-Jährige ist also in Freuds Augen krank, weil sie in dieser Situation wegläuft! Ein „gesundes Mädchen“ hätte dabei seine sexuelle Erregung genossen!

Weil die Ehefrau von Z. ein offensichtliches (lukratives) Verhältnis mit dem Vater der Patientin unterhält, wird die fortgesetzte Übergriffigkeit von Z. durch die umstehenden Erwachsenen ignoriert. Z. macht der 15-Jährigen schließlich einen offenen „Liebesantrag“, den sie mit einer Ohrfeige quittiert. Als sie ein paar Tage später ihrer Mutter davon erzählt, wird von Seiten der Eltern nicht ihr geglaubt, sondern dem zur Rede gestellten Herrn, der alles abstreitet.

In diesem durchsichtigen Schmierenstück der bizarr verrückten Erwachsenen gerät die junge Frau zunehmend in Verzweiflung bis hin zu Suizidabsichten, weil ihr die klare Wahrnehmung abgesprochen wird und sie in ihrer Bedrängnis völlig alleingelassen wird.

Sigmund Freud hat den Darstellungen der Fakten durch die junge Frau geglaubt! Immerhin! Aber er wird ihr dann unterstellen, dass sie quasi lügt, wenn sie abstreitet, was er bei ihr zu erkennen glaubt.

Das, was sich auf der Grundlage dieser festgestellten Fakten als „Therapie“ entspinnt, das ist – wie Freuds zitierte Mutmaßung über die angeblich gesunde Reaktion einer 13-Jährigen beim Erleben sexualisierter Gewalt bereits ahnen lässt – nur noch grotesk zu nennen: In seiner geradezu wahnhaften Trieb-Fixierung glaubt Freud lauter „Beweise“ für die eigentlichen Probleme der jungen Frau ans Tageslicht zu zerren: Dass sie ihrer Mutter von dem „Liebesantrag“ erzählt hat, wird ihr als „krankhafte Rachsucht“ gedeutet! Es wird ihr – obwohl von ihr verneint – wiederholt und penetrant ein Hang zur Masturbation unterstellt. Ebenso wird ihr die – gleichfalls verneinte, und dennoch an den Haaren herbeigezogene – Verliebtheit in die Geliebte ihres Vaters (Homosexualität) angedichtet. Phantasien in Bezug auf Sex in oraler und sonstiger Form mit dem Vater (Inzest) dürfen natürlich nicht fehlen. Und als Tüpfelchen aufs i kommt noch die (natürlich unbewusste) Verliebtheit in den sie verfolgenden Freund des Vaters hinzu, den sie – so Freuds Unterstellung – ja doch am liebsten geheiratet hätte.

Masturbation, Homosexualität, Inzest und Promiskuität umfasst das Spektrum der „Perversitäten“ (im Sinne Freuds), deren (angebliches) Vorkommen er der jungen Klientin „lückenlos“ nachweist. (Dass sie alles abstreitet, das muss er nicht ernst nehmen, weil sie ja sowieso unaufrichtig ist.) (Womit wir wieder beim Problem dieser Rubrik wären.) Nur, weil sich (angeblich) doch noch ein Rest gesunder Moral in ihr zur Wehr setzt, kommt es (angeblich) zur Verdrängung dieser Impulse. Im Widerstreit zwischen „verdrängen müssen“ und „zulassen wollen“ entstünden – als Kompromissbildung – die psychischen und psychosomatischen Symptome. Dies ist – zusammengefasst – Freuds wahnbeherrschte Deutung des Ursprungs von Ida Bauers Problemen.

Und dies ist auch das Grundraster, das sich über Kernberg und andere fortsetzt. Und es gibt bis heute eine unübersehbare Schar von Anhängern dieser Lehre. Wer es nicht glaubt, der möge mit dem 10-seiteigen Aufsatz von Kernberg durch die Fachwelt ziehen und dort um Reaktionen darauf bitten.

Die kluge Ida Bauer hat übrigens nach ca. 10 Wochen – in witzigster Art und Weise und von heute auf morgen – ihre „Kur“ beendet.

So verrückt können ganz berühmte Psychologen denken! So versessen können sie darauf sein, Recht zu behalten und den Opfern nicht zu glauben.

Das gab’s schon vor vielen Jahren. Und das gibt’s noch heute. Und wenn es das morgen nicht mehr geben soll, dann müssen solche Positionen ausdrücklich attackiert undf geächtet werden!

© Klaus Schlagmann

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